Endre Bojtár, Jahrgang 1940, wohnt seit seiner Heirat im vierten Stock eines älteren Miethauses mit den ortstypischen Pawlatschen. Der Name der Strasse hat nach 1989 gewechselt, das Quartier hinter den grossen Markthallen in der Franzenstadt ist durch die Fassadenreinigung merklich schöner geworden; das Angebot auf dem Markt ist um viele Importprodukte reicher. Kleine Kneipen, Cafés und Geschäfte geben den einstmals grauen und monotonen Strassenzügen heute ein angenehmes Cachet, ohne dass man sich bereits in der touristischen Zone befände. Wo die Altwohnungen nicht saniert werden können, werden sie niedergerissen. Gelegentlich entstehen hektargrosse Freiflächen.
Bojtár studierte slawische Literatur. Über das Russische kam er zum Tschechischen und zum Polnischen, dann eignete er sich nach und nach weitere slawische Sprachen an. Eher zufällig begann er sich für die baltischen Sprachen lettisch und litauisch zu interessieren. Als Europa-orientierter Ungar lernte er selbstverständlich deutsch und englisch und schnupperte bei Gelegenheit an den romanischen Sprachen.
Die Beschäftigung mit Literatur war für Bojtár stets Beschäftigung mit Politik. Er las nicht politische Literatur, sondern er las die Literatur politisch, auch die Belletristik. Die Einakter von Havel (“Attest”, “Protest” und andere) hatte er ins Ungarische übersetzt, lange bevor sie auf den Bühnen Westeuropas Furore machten. Als nach der Publikation der Charta 77, der wenig später Havels Verhaftung folgte, das Wiener Akademietheater eine deutschsprachige Erstaufführung zelebrierte, hatten seine Freunde und er deren Inhalt innerlich bereits verarbeitet. Immer auf neue Tendenzen aus, wie sich das ein ungarischer Intellektueller ohne politische Ambitionen leisten konnte, beschäftigte er sich Mitte der siebziger Jahre mit Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Zehn Jahre später wandte er sich der Geschichte zu; dass sie vor langer Zeit von Hegel zur Krone der Geisteswissenschaften erhoben worden war, schmeichelte ihm.
Positionssuche zwischen Ost- und Mitteleuropa
Politisch kann man Bojtár als “Nichtgläubigen” einstufen. Er war ein Gegner des totalitären Systems und der Unterdrückung, sowohl der blutigen, die bis in die sechziger Jahre anhielt, als auch der Knechtung des Geistes. Doch er war und ist auch Pragmatiker; er hing auch keiner andern Ideologie an. Er hielt und hält es mit dem Grundsatz “Der Geist weht, wo er will”. Zu seinen Freunden und Bekannten zählten und zählen die Schriftsteller Miklós Mészöly, Péter Nádas, Péter Esterhazy, der Soziologe Elemér Hankiss, der Philosoph Kis, der Dichter Petri sowie die Herausgeber von kämpferischen Zeitschriften wie Beszélö und anderen. Er trat in der Öffentlichkeit selten in den Vordergrund, hielt aber in den Schriften mit seiner Meinung keineswegs hinter dem Berg. Er interessierte sich unablässig dafür, was hinter den Kulissen der hohen Politik ablief und war stets gut informiert.
Sein schriftstellerisches Werk ist mittlerweile auf stattliche 13 Bände angewachsen. In den Essais widerspiegelt sich die existentielle Situation der Mittel- und Osteuropäer, wobei dem belesenen Mann seine Kenntnisse der Nachbarvölker zugute kam. Zwei Kostproben seiner schmunzelnden “kollektiven” Selbstironie wurden in der NZZ publiziert. Häufiger Gegenstand der Beobachtung waren Eigenheiten, besondere Verhaltensweisen, Inkonsequenzen und anderen Schwächen der Mitteleuropäer, die sich in ihrer Gesamtheit dann, alles in allem genommen, doch zu beträchtlicher Stärke runden. Nach dem klassischen Unterscheidungsschema ist Bojtár Urbanner, nicht Volkstümler, Menschen wie dem in die Politik eingestiegenen Erfolgsautor István Csurka geht er aus dem Weg.
Begründer der Baltistik
Die hervorstechendste Eigenschaft dieses Sprachwissenschaftlers und Historikers ist seine Bereitschaft, sich immer wieder mit neuen Phänomenen auseinander zu setzen. Auf diese Weise wurde er zum Begründer der Baltistik in Ungarn.
Seine grösste Leistung bestand in der Tat darin, den Osteuropäern überhaupt das Baltikum nahegebracht zu haben. In den geschlossenen Verhältnissen der sechziger und siebziger Jahre war das Erkennen der Besonderheit der drei baltischen Staaten geradezu eine Entdeckung. In der offiziellen Diktion waren Estland, Lettland und Litauen nichts anderes als drei Sowjetrepubliken, und die öffentliche Meinung interessierte sich nicht sehr dafür, dass sie als unabhängige, nichtrussische Staaten dem Sowjetreich durch eine Geheimbestimmung des Hitler-Stalin-Paktes zugeschlagen worden waren. Bojtár war allein auf weiter Flur, als er die Dokumente über die Annexion der baltischen Staaten analysierte und bekannt machte. 1989 kam sein Werk Die Entführung der Europa heraus, durch das die jüngere Generation der Ungarn erstmals von dem massiven Unrecht erfuhr, das dem Baltikum durch die Annexion von 1940 widerfahren war. Die baltische Frage beschäftigte ihn weiterhin. 1997 legte er einen Band über die Kultur der Balten vor (Einführung in die Baltistik, englisch Foreword to the Past, 1999). Ein Leitfaden durch die litauische Kulturgeschichte war bereits 1985 erschienen. Zwanzig Jahre später stellte er ein litauisch-ungarisches Wörterbuch fertig; im Alleingang, notabene, und ohne Aussicht darauf, dass sich die Zahl der Litauisch-Studenten in Ungarn und der Ungarisch-Interessenten in Litauen nun merklich heben werde, sondern weil er sich schuldig fühlte, eine Arbeit zu leisten, die sonst niemand unternommen hätte.
Ohne es zu wissen, stand der Autor Bojtár lange Zeit auf der schwarzen Liste; er durfte nicht gedruckt werden. Wie vielen andern wurde ihm dies jedoch nicht mitgeteilt, das Regime operierte mit irgendwelchen Ausflüchten. So erfuhr er erst nach Jahren, dass er zu den missliebigen Schreibern gehörte. Die Liste der nicht genehmen Autoren wurde in der Kulturabteilung der sowjetischen Botschaft in Budapest erstellt und von Moskau abgesegnet. Jahrzehntelang wurde über die ungarische Kulturpolitik in der sowjetischen Botschaft entschieden.
Gedankenlos in die Wende
Polen war 1989 der Schrittmacher auf der politischen Ebene; hier kam es im Sommer zu den ersten freien Wahlen und danach zur Bildung einer nichtkommunistischen Regierung. Ungarn setzte praktisch zur selben Zeit ein Zeichen, das nach aussen deutete. Unter dem Eindruck des unaufhaltsamen Stromes von DDR-Bürgern, die nach Westen wollten, schnitt der kommunistische Aussenminister Gyula Horn, der die Zeichen der Zeit begriffen hatte, mit seinem österreichischen Kollegen Alois Mock Ende Juni bei Ödenburg/Sopron ein Loch in den Eisernen Vorhang; nachträglich informierte er Gorbatschow. Die frei gewählte polnische Regierung und das Loch im Zaun waren Signale dafür, dass die von der Sowjetunion beherrschten Länder ihre eigenen Wege gehen wollten und begannen, den “Satellitenstatus” abzuwerfen. Der Domino-Effekt blieb nicht aus. Das für Ungarn psychologisch entscheidende Signal war aber wohl die Rehabilitierung und Umbettung Imre Nagys, des Ministerpräsidenten vom Herbst 1956, der nach der blutigen Niederschlagung des Volksaufstands zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war.
Der im Juni 1988 entmachtete Janos Kadar wurde von Alpträumen und von seinem schlechten Gewissen geplagt. Er hatte das Todesurteil unterzeichnet und erklärte nun in geistiger Verstörtheit, sein Schicksal und jenes von Imre Nagy seien ein und dasselbe. Nun stand einer Rehabilitierung Imre Nagys durch die kommunistische Partei nichts mehr im Wege. Am 16. Juni 1989 wurde er unter riesiger Anteilnahme der Bevölkerung und in Anwesenheit westeuropäischer Politiker auf dem Heldenplatz von Budapest begraben. Der Mann hinter dieser Tat war Miklos Vasarhelyi, ehemals Sekretär von Imre Nagy und nun Repräsentant des Börsenmagnaten und Sponsors der Anti-Revolution György Soros in Budapest. Kadar überlebte die persönliche Niederlage um drei Wochen.
“Unser Ziel war es, frei zu sein und von den Russen loszukommen”, erklärt Bojtár mit der äusserster Knappheit. “Darüber, was dann kommt, was Freiheit bedeutet, hatten wir nicht viel nachgedacht. Wir wussten aus leidvoller Erfahrung, dass nur Parteienpluralismus eine freie Gesellschaft garantiert, und die führende Rolle der oder einer Partei dazu im Widerspruch steht. Und weiter? Darüber, was man mit oder aus der Freiheit macht, (‘Freiheit wozu?’, wie sich Nietzsche ausdrückte) haben wir erst später, womöglich zu spät nachgedacht. Wir waren geistig nicht vorbereitet, als sich der Umsturz abzeichnete und das Ersehnte plötzlich möglich wurde. Ich persönlich war es nicht, und von denen, die an die Schalthebel der Macht gelangten, nur einige wenige.”
Die postkommunistische Generation
Inzwischen hat eine andere Generation die Zügel übernommen. Bojtárs älterer Sohn Endre lebt mit seiner Familie auf dem Lande. Er ist Mitgründer und Chefredaktor von Magyar Narancs, dem liberalen Wochenmagazin der geistigen Elite des Landes. Die Auflage von Magyar Narancs (15000 Exemplare) lässt sich nicht mit jener grosser westlicher Magazine vergleichen, auch nicht mit den Auflagen weniger anspruchsvoller ungarischer Publikationen, und die wirtschaftliche Situation zwingt die Redaktion zur Sparsamkeit. Nicht mehr die Zensur, sondern der Publikumsgeschmack setzt der Verbreitung Grenzen. Doch das Redaktionsteam sprüht vor Initiative und Ideen. Sein Lebensstandard, so sagt der Vierzigjährige, unterscheide sich nicht sehr von jenem, den er in der Kindheit im Elternhaus gewohnt war. Das Konsumangebot sei selbstverständlich wesentlich breiter und qualitativ besser als dazumal, aber die finanziellen Verhältnisse erlaubten keine grossen Sprünge. Im Gegensatz zu den Eltern lebt er auf dem Land, die Familie gibt mehr Geld aus für das Wohnen und vermutlich etwas weniger für den Tagesbedarf. Dass Mann und Frau verdienen, ist dieser Klasse von Ungarn inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen.
In den siebziger Jahren brachte ich ihm und seinem Bruder einmal eine Blue Jeans mit; zuvor waren mir von den Eltern die Marke und der Typ haargenau eingeschärft worden. Damals war eine original Blue Jeans aus dem Westen etwas ungeheuer Aufregendes, man konnte mit ihr vor den Mitschülern Staat machen. Westlich war nicht nur Synonym für Qualität, sondern auch für die grosse weite Welt. Wenn er nach unserem Gespräch mit seinem Sohn ein Paar Schuhe kaufen gehe, müssten diese nicht modern oder westlich sein; der letzte Schrei seien nun altmodische Schuhe, wie sie sein Grossvater in den dreissiger Jahren getragen habe. Er selber habe sie gehasst, aber nun seien sie eben wieder Mode.
Das Diktat der Mode hat vielleicht als einziges den Wechsel des politischen Systems überstanden. Selbstverständlich weiss Bojtár junior zwischen Wichtigem und Beiläufigem zu unterscheiden. Im Unterschied zu seinen Eltern hat er die Möglichkeit, seine Meinung in der Öffentlichkeit auszudrücken, ohne Massregelungen fürchten zu müssen. Daran hat sich die Generation der heute Vierzigjährigen rasch gewöhnt, und wahrscheinlich hätte sie erheblich Mühe, sich auch nur in einer gemässigten Diktatur zurecht zu finden.
Rudolf Stamm war von 1975 bis 1988 Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung für Osteuropa und Österreich, anschließend bis 1999 für Italien, dann bis zu seiner Pensionierung 2002 für die USA mit Sitz in Washington D.C. Lebte zuletzt in Trevignano nördlich von Rom und starb am 26. Januar 2010 in der Schweiz. 1985 erschienen seine in der NZZ erschienenen Reportagen aus Osteuropa in dem Band Alltag und Tradition in Osteuropa.