Zur Arbeit der Reflexionsgruppe über die geistige und kulturelle Dimension Europas. Editorial

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Im Frühling 2002 wandte sich der Präsident der Europäischen Kommission, Romano Prodi, an das Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien mit der Bitte, eine Gruppe von Europäern zusammenzustellen, welche über die Werte nachdenken soll, die im weiteren Prozess der Einigung Europas von besonderer Relevanz sind, und ihn in dieser Frage zu beraten.

Zur Arbeit der Reflexionsgruppe über die geistige und kulturelle Dimension Europas. Editorial

Unabhängige Individuen sollten es sein, keine Vertreter von politischen Parteien, Kirchen oder anderen Organisationen; Personen mit intellektuellem Anspruch und politischer Erfahrung wie auch mit einer überparteilichen Autorität in ihren Ländern. In den darauffolgenden Wochen wurde die Gruppe gebildet und nahm bald ihre Arbeit auf.

Unseren Auftrag haben wir folgendermaßen verstanden: Die Europäische Union steht vor einer großen, vielleicht ihrer bisher größten Herausforderung. Zum einen erweitert sie sich, und zwar dramatisch: Mehr als 70 Millionen Menschen werden europäische Pässe bekommen. Zum anderen versucht sie, sich selbst – vor allem in dem vom Konvent initiierten Verfassungsbildungsprozess – radikal neu zu definieren, sich in eine neuartige politische Einheit zu verwandeln.

Die Erweiterung wird Menschen in die Union bringen, die oft viel ärmer und kulturell sehr anders sind als die Mehrzahl der eingesessenen Bürger. In der Folge werden die wirtschaftlichen und kulturellen Differenzen innerhalb der Union sprunghaft wachsen und sich intensivieren. Gleichzeitig ist der Verfassungsbildungsprozess ein kühner und ehrgeiziger Versuch, die Einheit der Union auch inhaltlich neu zu definieren.

Was kann in dieser Situation einer wachsenden Vielfalt bei gleichzeitig anspruchsvollerer Einheit die erweiterte, neu definierte Europäische Union zusammenhalten? Welche Wertvorstellungen, welche Traditionen, welche Ziele sind geeignet, die Litauer und die Basken, die polnischen Bauern und die schottischen Kumpel in einem demokratischen Gebilde zusammenzubringen – und auf diese Weise die künftige europäische Verfassung zu untermauern und mit Leben zu erfüllen?

Wir haben beschlossen, unsere Aufmerksamkeit auf einige spezifische Themenbereiche – mögliche wunde Punkte des europäischen Integrationsprozesses – zu lenken: Vor allem natürlich auf die Fragen der Erweiterung der Union um die Länder des ehemaligen Sowjetimperiums. Wie wird diese Erweiterung die Bedingungen der europäischen Solidarität verändern? Was bringen diese neuen Mitglieder mit an den gemeinsamen Tisch? Werden sie – wie manche fürchten – nur Spielverderber sein, diese armen, schmutzigen, nicht-aufgeklärten Gesellen mit ihren fragwürdigen demokratischen Traditionen (wenn sie denn überhaupt welche haben)? Werden sie den Demokratisierungsprozess der Union verlangsamen, ja ganz zum Stillstand bringen, werden sie eine gemeinsame Außenpolitik vereiteln und weiß der Himmel welches Porzellan noch zerschlagen – genauso, wie sie den Arbeitsmarkt (so sagt man) ruinieren? Oder ist es so, dass sie die Union nicht nur neuen Gefahren aussetzen, sondern ihr auch neue Chance eröffnen (wie wir glauben)?

Das Jahr 1989 hat Europa von Grund auf verändert. Lebt dieses Jahr noch weiter, in dem, was wir tun – oder ist es zu einem bloßen Museumsstück verkommen? Immerhin war 2003 das Jahr der Solidarität. Gibt es noch Lehren, die man der damaligen Solidarität für die heute notwendige abgewinnen könnte?

In den revolutionären achtziger Jahren stand der Name “Solidarität” – zuerst in Polen, dann, schon teilweise als Mythos, auch in anderen Ländern – für ein gesellschaftliches Band, das die Menschen unabhängig von den bestehenden politischen Institutionen zusammenbringt. Dieses Band erwies sich als die Grundlage für eine radikale, lebensnotwendige Reform – eine Revolution eben – der politischen Ordnung. Es zeigte sich, dass ein wirklicher politischer Realismus diese Realität in Betracht ziehen muss – und nicht nur die in den „real existierenden” politischen Institutionen organisierten Interessen.

Wir wollen versuchen, aus dieser Erfahrung zu lernen.

Eine andere Lehre von 1989 könnte sein, dass man die Frage nach der gesellschaftlichen Identität kaum beantworten kann, ohne auf die Dimension der Zukunft – das heißt, auf die manchmal nur halb bewussten Wünsche, Erwartungen, Träume der Menschen – einzugehen. Manchmal können diese Wünsche und Träume für ein großes, gemeinsames Projekt mobilisiert werden – wie damals, im Jahr 1989, für das Projekt einer freien Gesellschaft. Und heute, vielleicht, für Europa.

In diesem Zusammenhang könnte sich, so dachten wir, das Problem der europäischen Religionen als besonders interessant erweisen. Dieses Problem sollte unseren zweiten Schwerpunkt bilden. Aus tragischen Erfahrungen weise geworden, bemühten sich die europäischen demokratischen Gesellschaften in den letzten beiden Jahrhunderten darum, die Religionen aus dem politischen Raum zu entfernen. Nicht ohne Grund galten sie als spaltend, nicht als einigend. Das ist sicherlich wohl auch heute noch oft der Fall. Vielleicht aber bergen die europäischen Religionen auch ein Potential, die Menschen in Europa zueinander statt auseinander zu bringen? Wir haben beschlossen, auf diese Frage näher einzugehen. Die Rolle des Islam im europäischen öffentlichen Raum soll dabei besonders aufmerksam erörtert werden.

Wenn man über Europa als Projekt nachdenken will, kann man natürlich die Frage nach der Rolle Europas in der Welt nicht beiseite lassen. Welche Aufgaben könnten sich für Europa aus seinem neuen, vielleicht noch zu klärenden Selbstverständnis ergeben? Entsprechen die bestehenden Institutionen – ob europäisch oder international – diesem neuen Selbstverständnis? Welche Möglichkeiten eröffnen sich für die Gestaltung des Verhältnisses zwischen dem neuen Europa und den Anderen, insbesondere den Vereinigten Staaten von Amerika? Dieser Fragenkomplex wird unser dritter Themenkreis sein.

Mit Unterstützung der Europäischen Kommission ist die Gruppe mehrmals mit Experten zu den jeweiligen Fragenkomplexen zusammengekommen. Die von den Experten vorbereiteten Analysen zu den ersten beiden Themen – Welche Herausforderung stellt die Erweiterung der Union für die europäische Solidarität dar? Welche Rolle können die Religionen bei der Bildung einer neuen europäischen Solidarität spielen? – veröffentlichen wir im vorliegenden Heft von Transit, zusammen mit thematisch verbundenen Beiträgen einiger Gruppenmitglieder.

Um von Anfang an eine möglichst breite Öffentlichkeit in unsere Diskussionen einzubeziehen statt sie mit einem fertigen Resultat zu konfrontieren, veranstaltet die Gruppe eine Reihe von öffentlichen Debatten in mehreren europäischen Hauptstädten: die erste (organisiert in Zusammenarbeit mit der Warschauer Stefan Batory Foundation) fand in Warschau, in der Residenz des polnischen Staatspräsidenten statt, die zweite (in Zusammenarbeit mit der österreichischenIndustriellenvereinigung) im Palais des Fürsten Schwarzenberg in Wien. Die nächsten Treffen werden in Paris (in Zusammenarbeit mit La République des idées) und Berlin stattfinden; Gastgeber sind der französische Außenminister, Dominique de Villepin, und der deutsche Außenminister Joschka Fischer. Die intellektuellen Resultate dieser Treffen – die unserem dritten Themenkreis, der Rolle Europas in der Welt, gewidmet sind – werden wir im nächsten Transit-Heft veröffentlichen.

Ein weiteres Mittel, unsere Überlegungen einer breiteren europäischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, sind Zeitungskolumnen, welche die Mitglieder unserer Gruppe zu den erörterten Themen schreiben. Sie werden in Zusammenarbeit mit Project Syndicate, einem nichtkommerziellen internationalen Zusammenschluss von mehr als 170 Tageszeitungen, in Europa und weit darüber hinaus veröffentlicht. Bisher sind 8 solche Kolumnen in 40 Zeitungen und 32 Ländern erschienen.

Wir hoffen, dass die Arbeitsergebnisse der Reflexionsgruppe einige Anstöße für die Diskussion über die Bestimmung der neuen Union Europas geben können.

Wien, im Dezember 2003


Anmerkung

Sie besteht aus folgenden Mitgliedern: Kurt Biedenkopf, Silvio Ferrari, Bronislaw Geremek, Arpad Göncz, John Gray, Will Hutton, Jutta Limbach, Krzysztof Michalski, Ioannis Petrou, Alberto Quadrio Curzio, Michel Rocard und Simone Veil.
Weitere Informationen finden sich untereuropa.eu.int/comm/commissioners/prodi/group/michalski_en.htm


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Transit – Europäische Revue, Nr. 26/2004