Dass Menschen sterblich sind, ist allgemein bekannt; aber können auch Begriffe wie “der Mensch” zu Tode kommen, um dann ihre diskursive Wiederauferstehung zu feiern?
1. Zur aktuellen, fragwürdigen Renaissance des Menschen
Im Gegensatz zu so mancher Prophezeiung, der Mensch werde von der Bühne der Geschichte “verschwinden”, sehen wir uns heute mit dem Befund einer scheinbaren Renaissancedes Menschen konfrontiert. Dass Menschen sterblich sind, ist allgemein bekannt; aber können auch Begriffe wie “der Mensch” zu Tode kommen, um dann ihre diskursive Wiederauferstehung zu feiern? Handelt es sich nicht allein darum, ob sie sich für Wissen und Erkenntnis als fruchtbar erweisen oder nicht? Für die Humanwissenschaften gilt das gewiss. Deshalb empfahl Georges Canguilhem, Michel Foucaults epistemologischer Mentor, dessen notorisch dramatisierten und missverstandenen Thesen (wie der vom Verschwinden des Menschen) mit großer Gelassenheit zu begegnen.
Ungeachtet weit verzweigter anthropologischer Diskurse, die eine unübersehbare Zahl von Veröffentlichungen hervorgebracht haben, bestehen allerdings nach wie vor erhebliche Zweifel daran, ob wir heute weiter sind als Blaise Pascal, der feststellte, niemand wisse, was ein Mensch ist. So unterstellte er immerhin, dass dieses Nicht-Wissen nur Menschen haben, die zwar nicht wissen, was sie sind, wohl aber davon ausgehen, dass sie überhaupt jemand sind. Um die Wer-Frage, die auf jemanden abzielt, steht es indessen kaum besser. “Der Mensch? Wer ist das?” – fragte Isaiah Berlin rund dreihundert Jahre später, um diese Frage suggestiv als unsinnig abzutun. Einem Einzelnen können wir die Frage stellen, wer er ist. Aber ein begriffliches Abstraktum wird auf eine solche Frage keine Antwort geben können.
Bei der fraglichen “Renaissance” des Menschen kann es sich gewiss nicht um eine einfache Rückkehr zu einem nach wie vor tragfähigen und zukunftsweisenden Begriff handeln, der der Geschichte anthropologischen Denkens zu entnehmen wäre. Zu tief schneidet die geschichtliche Erfahrung, die Hannah Arendt, Emmanuel Levinas, Giorgio Agamben und viele andere im Blick haben, ins Fleisch menschlichen Selbstverständnisses und zahlreicher Grundbegriffe ein, mit denen man sich in Jahrtausenden die Bedingungen des Gelingens, die Risiken des Scheiterns und schließlich die Perspektiven des Untergangs menschlichen Lebens verständlich zu machen suchte.
Das festzustellen bedeutet keineswegs, Begriffe und Überlieferungen einfach zu verwerfen, an die man doch anknüpfen muss, um sie auch nur ein wenig umdenken zu können. Es bedeutet aber, selbst einen so unverzichtbaren Begriff wie die Würde des Menschen viel radikaler einer kontingenten und unvorhersehbaren Historizität ausgeliefert zu wissen, als es offenbar diejenigen für möglich halten, die ihn wie eine unverrückbare Gegebenheit behandeln, obgleich ihm durchaus kein ehrwürdiges Alter zukommt und obwohl die Geschichte für kaum etwas anderes deutlicher spricht als für die Verletzbarkeit der Würde, die auch die westlichen Demokratien, die sich so gerne mit ihr schmücken, keineswegs unbedingt zu achten gelernt haben. Im Gegenteil: zuletzt hat der berüchtigte “Krieg gegen den Terror” gezeigt, wie man sogar im Namen der Menschenrechte zu entwürdigender Gewalt greifen kann.
Nur ein fragwürdiger Juridismus hält diese Rechte für einen unverlierbaren Besitz, dessen wir uns sicher sein und den wir ohne weiteres auch gegen andere zum Einsatz bringen können, und sei es nur, um ihnen abzuverlangen, sich endlich auch zur Anerkennung dieser Rechte durchzuringen. In Wahrheit ist die durch diese Rechte im Namen der Würde eines jeden Menschen zu gewährleistende “Menschlichkeit”, von der man kaum emphatisch zu sprechen wagt, stets ein prekäres, zerbrechliches und flüchtiges Phänomen, das sich allemal nur ereignishaft zeigt. Das jedenfalls haben uns philosophisch sträflich vernachlässigte Experten in Sachen Gewalt wie Wassili Grossman (vor allem mit seinem Roman Leben und Schicksal) gelehrt. In der Perspektive einer geschichtlichen Reflexion des Menschen legt Grossman Zeugnis ab von einer unannehmbaren Gemeinschaft selbst mit radikalen Feinden. Ob sich das Bild, das Grossman von dieser Gemeinschaft entwirft, mit einer Ethik vereinbaren lässt, die wie der “Humanismus des anderen Menschen” bei Levinas geradezu das “Ende aller Menschenbilder” heraufbeschwört, wäre einer ausführlichen Untersuchung wert.
In radikalisierter Feindschaft, so wie sie Grossman beschreibt, machen wir die Erfahrung einer zerbrochenen und zugleich unannehmbaren Gemeinschaft. Sie nicht nur ethisch (wie Levinas mit einem Seitenblick auf das Werk Grossmans), sondern historisch und kulturwissenschaftlich auszuloten, erforderte Sondierungen in einem vielschichtig-polemologischen Gelände, die sich gleich weit entfernt halten müssen von einem Realismus oder Defaitismus einerseits, der uns zur Feindschaft von Natur aus oder im Widerstreit heterogener Lebensformen förmlich verurteilt sieht und vorgibt, sich damit ohne weiteres arrangieren zu können, und von der unpolitischen Naivität eines guten Willens andererseits, der zur Versöhnung im Zeichen einer unteilbaren Menschheit aufruft, aber die Herausforderung radikaler Feindschaft als solche gar nicht recht bedenkt.
Im politischen Leben soll ja gelten: “Heute sind alle Menschen Menschen” (Jean Baudrillard) – auch Feinde, denen un-menschliche Un-Taten gegen Andere zur Last zu legen sind und die sich in Folge dessen aus der Menschheit auszuschließen scheinen oder von Anderen aus ihr ausgeschlossen werden. Wenn nun aber alle Menschen, auch Un-Menschen, Menschen sein sollen bzw. als solche behandelt werden sollen, so hat es mit derartigen Exklusionen scheinbar ein Ende. Menschen sollen unter allen Umständen als Menschen “zählen”, auch solche, deren Tun keine Spur des Menschlichen mehr zu verraten scheint, so dass man dazu neigt, das Tun — oder die Täter selbst — als “monströs” einzustufen. Dennoch soll jedem der unbedingte Anspruch zustehen, menschlich behandelt zu werden. Menschen könnte man demnach geradezu dadurch definieren, dass sie darüber befinden, wer in diesem Sinne als Mensch zählt ? und wer nicht zur Menschheit zu rechnen ist. So gesehen wird unsere Aufmerksamkeit weniger auf die Frage gelenkt, was alle Menschen als solche ausmacht, sondern vielmehr darauf, unter welchen Umständen Andere als Menschen zählen oder nicht zählen.
Vielleicht wären wir des Menschen tatsächlich endgültig überdrüssig, wie Friedrich Nietzsche meinte, würde nicht eben dies: wer als Mensch zählt und wer Anspruch darauf hat, immer wieder auf dem Spiel stehen. Weit entfernt, etwa durch eine biologisch definierbare Gattungszugehörigkeit oder durch ein universales Recht, das von vornherein ausnahmslos alle Menschen einbeziehen soll, garantiert zu sein, kommt dieser prekäre Anspruch nur okkasionell zur Geltung. Er ist niemals vor radikaler Anfechtung verlässlich geschützt. Das zeigt sich in radikaler Feindschaft, die “restlos” alles aufzukündigen scheint, was Menschen noch im Geringsten miteinander zu verbinden verspricht.
Eine biologische Definition der Menschheit hilft in dieser Frage so wenig weiter wie ein fragwürdig rechtschaffener Juridismus, der in universalen, unabdingbaren Rechten, die jedem Menschen unter allen Umständen zustehen sollen, die Lösung sieht. Dieser Juridismus hält es für ausgemacht, dass er es immer mit Menschen zu tun hat, während eben das in der Erfahrung radikaler Verfeindung in Frage steht, wo un-menschliche Un-Taten die Erfahrung einer unannehmbaren Gemeinschaft implizieren. Zwischen Biologie und Recht, behauptet vor allem Levinas, gibt es aber noch einen dritten Denkweg, auf dem die Möglichkeit einer solchen Gemeinschaft zu erproben wäre: den Weg, den uns eine “ethische Verwandtschaft” in der Erfahrung der Verantwortung für den Anderen weist, und zwar selbst dann, wenn es sich um einen radikalen Feind handeln sollte. Was Levinas programmatisch als “Humanismus des anderen Menschen” bezeichnet hat, sollte dieser Verwandtschaft zur Geltung verhelfen. Aber handelt Levinas’ Philosophie nicht vom Anderen immer wieder in einer geradezu welt-fremden und anti- bzw. a-politischen Art und Weise – so, als begegne man ihm als Anderem nur “unvermittelt”, von Angesicht zu Angesicht, aber gerade nicht in vielfach sozial, politisch, rechtlich und medial vermittelten Verhältnissen? Zweifellos wäre es ungerecht, gegen Levinas’ Philosophie, die durch eine Vielzahl von politischen Schriften gewissermaßen flankiert wird, einen derart pauschalen Vorwurf zu richten. Dennoch glaube ich, dass sie uns mit dem Erfordernis einer nachhaltigen Repolitisierung jenes Humanismus konfrontiert. Die nachfolgenden Überlegungen sollen ansatzweise deutlich machen, dass der Versuch einer solchen “Repolitisierung” gleichwohl auf diesen Humanismus des Anderen angewiesen bleibt.
2. Rückbesinnung auf das Politische
Levinas’ Humanismus des anderen Menschen kann als geradezu anti-politische Apologie eines außer-ordentlichen, keiner menschlichen Gewalt zur Disposition stehenden Anspruchs des Anderen gelesen werden. Bedarf aber die Rede von einem außer-ordentlichen Anspruch des Anderen nicht der Rückbindung an politische Ordnungen, die er durchkreuzt? Levinas bedenkt zu wenig die Ambiguität der Herausforderung durch den singulären Anspruch des Anderen, der auch als unser radikaler Feind auftreten kann. Gerade daran zeigt sich: nur verlässliche politische Lebensformen bewahren uns vor absoluter Überforderung, die ebenso in Gewalt umschlagen kann wie die rigorose Exklusion, die sich gegen jede Überforderung zu immunisieren sucht. Levinas unterschätzt in einer fahrlässig das europäische Staatsdenken nivellierenden Kritik die “konstruktive” Bedeutung politischer Lebensformen, die im Zeichen einer primär unbedingt gastlichen Aufgeschlossenheit für den Anspruch des Anderen doch stets nur eine beschränkte Gastlichkeit werden realisieren können. Kann nicht allein die politisch geregelte Beschränkung auch einer exzessiven (nicht geleugneten) ethischen Überforderung durch eine unbedingte Gerechtigkeit gerecht werden? Muss also die ethische Auskehr aus dem Politischen, die uns Levinas abzuverlangen scheint, nicht doch wieder zu ihm zurückfinden? Nicht, um sich in ihm aufheben zu lassen, sondern um eine fruchtbare Überkreuzung von Ethik (im Zeichen des Anderen) und Politik (im Zeichen einer irreduziblen Pluralität vieler Anderer) möglich zu machen? So kommt das Desiderat einer neuen Besinnung auf das Politische im Zeichen dieser radikalen ethischen Herausforderung in dieser selbst wieder zum Vorschein.
Gewiss kann man Levinas nicht vorwerfen, ein geradezu weltfremd-unpolitischer Denker zu sein. Aber man muss doch bezweifeln, ob er die Möglichkeit ernsthaft in Betracht gezogen hat, der Anspruch des Anderen, wie er bereits in dessen Blick wahrzunehmen, besonders aber vermittels seiner Stimme zu vernehmen sein soll, könne radikal angefochten und in Abrede gestellt werden. Genau das scheint aber Jacques Rancière anzunehmen und geradezu als grundlegende Prämisse eines Denkens ins Spiel zu bringen, das wirklich das Prädikat “politisch” verdient. In seiner Sicht erfasst eine unaufhebbare radikale Strittigkeitrückhaltlos alles, was man bislang glaubte voraussetzen zu müssen, um politisches Leben in der Auseinandersetzung mit Anderen überhaupt denken zu können – angefangen bei der Ansprechbarkeit Anderer, denen man zutraut, wenigstens die Stimme Anderer zu vernehmen, d. h. sie zu hören, aber auch auf sie zu hören, wenn sie danach begehren.
Nicht einmal dass wir in diesem Sinne auf die Ansprechbarkeit Anderer zählen können, lässt Rancière noch ohne weiteres gelten. Wo für Aristoteles und die gesamte, seine politische Theorie paraphrasierende politische Philosophie noch eine klare Grenze zwischen Tierreich und Menschen, zwischen sprachlosem Geräusch und verständlicher Sprache verlief, entzieht uns Rancière jegliche Sicherheit. Nicht einmal dies, ja vor allemdies ist selbst innerhalb einer politischen Lebensform eben nicht gewiss: dass einer den Anderen allein mittels seiner Stimme ansprechen kann.
Wer nicht Gehör findet, also gewissermaßen bloß un-politisches verbales Geräusch macht, sieht sich innerhalb der jeweiligen Lebensform am Ende auf das barbarische Gestammel eines Fremden reduziert, dessen Rede (politisch) in den Augen der Griechen (und noch der römischen Patrizier) unmöglich zählen kann. Wer aber im Grunde nicht (politisch) spricht, existiert eigentlich nicht. Geräusche abzusondern, die nicht zählen, bedeutet nicht, als sprechendes, vernunftbegabtes Lebewesen zu existieren. Und dieser Status kommt uns nicht etwa von Natur aus oder aufgrund unserer Mitgliedschaft in einer politischen Lebensform zu. Vielmehr wird über diesen Status in Rancières Sicht ganz und gar von Anderen entschieden, die darüber befinden, wer bzw. wessen Rede überhaupt als Rede zählt.
Angesichts der Tatsache, dass andere (von Levinas über Derrida bis Waldenfels) in der Ansprechbarkeit und im Anspruch des Anderen gerade das meinen entdeckt zu haben, was sich der Verfügung Anderer, zumal politischer Verfügung, absolut entzieht, lohnt es sich, genauer zu fragen, was Rancière zu einer Radikalisierung seines politischen Denkens bewogen hat, die nichts mehr vor einer rückhaltlosen Auslieferung ans Politische bzw. an Politik scheint bewahren zu wollen – wie gesagt nicht einmal den Anspruch des Anderen, der auf die Ansprechbarkeit Anderer setzen muss, um auch nur einen Streit eröffnen zu können. Wenn Politik auch darüber noch herrscht, kann sie ggf. radikal mundtot machen. Was auch immer einer sagt, beklagt oder geltend macht, wird, wenn er oder sie oder es nicht zählt nach Maßgabe einer politischen Lebensform, niemals Gehör finden, selbst wenn kein offizielles Redeverbot verhängt wurde, selbst wenn liberale Freiheiten wie das Recht auf Versammlung, politische Demonstration und ungehinderte Rede garantiert erscheinen. So beschwört gerade die Philosophie unaufhebbaren radikalen Streits, als die sich uns Rancières politische Theorie darstellt, den Schrecken eines absoluten Verstummens im Streitlosen herauf, zu dem man von Anderen politisch verurteilt werden kann; und zwar nicht etwa bloß in totalitären Systemen, denen man das nach einschlägigen Erfahrungen zutraut, sondern grundsätzlich überall, auch dort, wo sich selbstgerechte Demokratien im Licht ihrer historischen Errungenschaften sonnen, die sie als Werte der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Achtung der Würde des Anderen weltweit zum Export anbieten.
3. Gegen eine normalisierte Politik: radikaler Dissens,
Unrecht und unvermeidliche Verrechnung
Polemisch wendet sich Rancière gegen die Müdigkeit einer politischen Philosophie, die uns glauben macht, es gelte nur, in immer neuen Variationen, jene “zwei auf die griechische Antike zurückgehenden Grundaussagen” weiter zu bedenken, denen zufolge der Mensch als ein sprechendes Tier zu verstehen ist, das darauf angelegt scheint, in einem Gemeinwesen nach selbstgegebenen Gesetzen zu leben; und zwar umwillen kollektiven Interessenausgleichs und zum Zweck der “Wirklichkeitsbewältigung”. Ein derart ernüchterter politischer Realismus wehrt notorische Überforderungen des Politischen und durch das Politische im Namen einer Politik ab, die kein ihr fremdes “Maß des Sicheinrichtens aufs Irdische” mehr kennt und sich, so scheint es, am besten als kollektives Realitätsprinzip bewährt. Gegen dieses Denken erhebt Rancière den Vorwurf, es bringe politisches Leben geradezu zum Verschwinden und rette es nicht etwa im Zeichen eines niemanden überfordernden politischen “Realismus”. Ein realistisch verkürztes, nur noch polizeilich zu regelndes bzw. zu verwaltendes Leben würde Rancière zufolge auf das Ende des Politischen hinauslaufen. Nicht ohne Berechtigung fragt Rancière daher: “Gibt es [überhaupt noch] eine politische Philosophie?” bzw. wirkliche Politik, die sich dieses Widersinns bewusst ist?
Politik im emphatischen Sinne des Politischen ereignet sich für Rancière nicht im Ausgleich bereits etablierter, von jedem selbst mehr oder weniger machtvoll oder gewaltsam vertretener Interessen, sondern vor allem dort, wo politisches Leben sich öffnet oder öffnen muss für außer-ordentliche Ansprüche, Anderen Gehör zu schenken. Geschieht dies, so kann das, was zunächst gewissermaßen nur als a-politischer Lärm unbedeutender Subjekte eingestuft wird, die scheinbar nichts zu sagen haben, tatsächlich als sinnvolle Rede zur Geltung kommen und Andere in Anspruch nehmen; und zwar im Zeichen einer außer-ordentlichen Gleichheit sprechender Wesen, die in die jeweilige politisch geregelte Ordnung hineinwirkt. Wo das ausgeschlossen ist, wird Politik am Ende zu einer “polizeilichen”, im Grunde a-politischen Angelegenheit.
Doch kann es lt. Rancière nie ganz gelingen, den Ansprüchen Anderer Rechnung zu tragen, so dass eine Unversöhnbarkeit im Missverhältnis zwischen dem Ereignis des Politischen im Anspruch Anderer einerseits und der Politik andererseits, die sie wie selektiv und beschränkt auch immer aufgreift, unausweichlich im Spiel bleibt. Immer bleiben einige “Nichteinberechnete” draußen, sei es als Nichtberücksichtigte, als Ausnahmen oder als Ausgeschlossene. Rancière erkennt darin ein Problem unaufhebbaren Unrechts in der politisch geregelten Gerechtigkeit. Die Aufdeckung dieses Unrechts (tort constitutif; tort qui institue la politique; LM, S. 25, 113) als unaufhebbarer Verkennung oder Verrechnung (mécompte), die in jeglicher Gerechtigkeit aufzuweisen sei, strafe jede Politik Lügen, die unter Berufung auf eine ethnische oder demokratische Homogenität (ethnos, demos), eine politische Gemeinschaft (koinonia) oder kosmopolitische Gesellschaft den Anspruch erhebt, der Gerechtigkeit gerecht geworden zu sein ( vgl. DU, S. 80, 91) . Die Normativität dieses Anspruchs erweist sich im Zeichen jener außer-ordentlichen Gleichheit als nicht normalisierbar. Der Normativität selbst wohnt gewissermaßen eine konstitutive Pathologie inne, da sie stets und unvermeidlich, wie Rancière meint, die Ansprüche einiger nicht berücksichtigt oder missachtet.
Gleichwohl soll grundsätzlich immer die Möglichkeit bestehen, dass demokratisches, von der Gefahr jenes Verkennens beunruhigtes politisches Leben sich gewissermaßen unterbricht, um den Ansprüchen Anderer wenigstens “ausnahmsweise” Gehör zu schenken und ihnen womöglich statt zu geben. Muss es das nicht sogar versprechen, wenn tatsächlich jeder Andere eine Ausnahme ist, als Ausnahme in Erscheinung treten kann oder als Ausnahme gewürdigt zu werden begehrt? Oder kann das Politische in der ereignishaften Herausforderung durch die Ansprüche Anderer, auch radikaler Feinde, nur gewaltsam “einbrechen”?
Schließlich kann auch der Feind auf unberechenbare und unannehmbare Art und Weise nach Gerechtigkeit verlangen. Hier kommt Rancières Politische Philosophie dem Gedanken einer unvermeidlich überforderten Gastlichkeit politischer, demokratischer Lebensformen bei Derrida und Levinas nahe. Wenn sich diese Lebensformen unbedingt dem Anspruch Anderer öffnen, wie es im Sinn radikaler Gastlichkeit zu liegen scheint, werden sie eventuell gerade “durch ihre Anfechtung am Leben erhalten” – vorausgesetzt, sie schlägt nicht in absolute Überforderung und in Folge dessen in rigorose Abwehr um.
Diese Möglichkeit hat vor allem Derrida beschäftigt, wohingegen Rancière weitgehend auf das fruchtbare polemische Potenzial des Politischen vertraut, indem er darauf hofft, es werde wieder echten Streit inspirieren und sich einer wuchernden Normalisierung widersetzen, der die Politik heute weitgehend unterliege. Nur auf den ersten Blick stimmt Rancière damit in den Chor all derer ein, die deshalb nach Rückbesinnung auf die Konfliktpotenziale einer als Hegung polemogener oder antagonistischer Auseinandersetzung aufgefassten demokratischen, agonalen Streitkultur verlangen. Stattdessen erhebt er gegen eine normalisierte Streitkultur den Vorwurf, gerade sie kenne keinen echten Streit mehr. Rancière meint, der grundlegende Streit (litige fondamental; LM, S. 28) müsse sich darum drehen, wer überhaupt einbezogen wird als Teilnehmer am politischen Leben und wessen Rede in diesem Sinne “zählt”. Dieser, die politische Existenz aufs Spiel setzende (oder sie erst einklagende) Streit werde aber vielfach unterdrückt und politisch geradezu unkenntlich. Statt ungeschminkt artikuliert zu werden, zeige sich das Strittige nicht selten bloß als unterdrücktes polemogenes Potenzial in einer Praxis der Inklusion und Exklusion.
Zugespitzt könnte man demnach sagen: wo dem Anschein nach politischer Streit stattfindet (wo heterogene Politiken aufeinander treffen), da verkümmere tatsächlich das Politische wirklicher Politik. Letzteres liegt für Rancière aber erst sekundär im Streit um die gut, gerecht oder fair zu regelnde Einrichtung, Stabilisierung, Um- und Neuformung menschlichen Zusammenlebens nach Maßgabe dessen, was mehr oder weniger alle angeht, die zusammen leben, und im Hinblick darauf, wie man einander gefährdet, wenn man dieser Maßgabe nicht Rechnung trägt. Primär ereignet es sich dort, wo eine existenzielle, das Sein redender Wesen rückhaltlos affizierende Auseinandersetzung um die Frage stattfindet, wer überhaupt “zählt” als politisches Subjekt, das etwas zu sagen hat und Ansprüche erheben kann.
Politische Theorien, die sich auf eine “realistische” Beschreibung gewisser Politiken beschränken, in denen sog. Interessenausgleich stattfindet, haben die von Rancière anvisierte radikale Ebene der sprachlichen Artikulation, Wahrnehmung und Re-präsentation von Ansprüchen immer schon übersprungen. Indem sie politische Macht nur noch in terms des Ausgleichs von etablierten Interessen diskutieren, erweisen sie sich zugleich als blind für die elementare Machtdimension, die bereits auf dem Weg der Artikulation von Ansprüchen selbst zum Zuge kommt – angefangen beim Hören auf den Anspruch Anderer über das Hin- und Zuhören bis hin zu deren expliziter Würdigung und Anerkennung. Anerkannt werden kann allemal nur das, was zuvor auch wahrgenommen wurde.
Die wirksamste Unterbindung der politischen Existenz Anderer liegt weniger in der Verweigerung von Anerkennung als vielmehr darin, nicht einmal die Artikulation ihrer Ansprüche als solche zuzulassen, indem man sich blind und taub stellt. In diesem Fall hat es schließlich den Anschein, als hätten Andere überhaupt nichts gesagt oder zu sagen und sie kämen nicht einmal als Subjekte möglicher Rede in Betracht (die nur als wenigstens derart Anerkannte auch um weiter reichende Anerkennung kämpfen können). Wo nicht realisiert wird, wie sich das Politische bereits in der (unterdrückten, mangelhaften oder auch gelingenden) Artikulation und Wahrnehmung von Ansprüchen ereignet und Politik auf bloßen Interessenausgleich reduziert gedacht wird, handelt es sich für Rancière im Grunde um eine Leugnung des Politischen oder um a-politische Beschreibungen von Politik. Daraus erklärt sich sein Interesse an einer Re-Politisierung politischer Philosophie, die grundsätzlich neu zu befragen hätte, wer wie mit wem unter welchen Umständen überhaupt in ein Verhältnis eintreten kann, das dann sekundär konkret politisch zu gestalten ist. Auf der primären Ebene der sinnlichen Konstitution eines solchen Verhältnisses bereits und nicht erst im Rahmen dessen, was man politische Auseinandersetzung (um gerechte Anteile usw.) nennt, spielt sich ab, was Rancière als grundlegenden Streit bezeichnet.
4. In geteilter Gemeinschaft
“Vor allem Abmessen der Interessen und der Ansprüche an diesen oder jenen Anteil [an Ressourcen, an gerecht zu verteilenden Gütern usw.] betrifft der Streit das Dasein der Teile als Teile, das Dasein eines Verhältnisses, das sie als solche konstituiert. Und der doppelte Sinn von Logos, als Sprache und als Zählung, ist der Ort, an dem sich der Konflikt abspielt” (DU, S. 37). Der Witz dieser Position liegt nun allerdings nicht bloß darin, darauf hinzuweisen, dass vor jeglichem Interessenausgleich immer schon irgend eine “Zählung” derer stattgefunden haben muss, die für ihn in Betracht kommen. Vielmehr geht es Rancière darum, dass jede Zählung unvermeidlich falsch ist. Wie (und durch wen) auch immer diejenigen bestimmt werden, die schließlich politisch zählen, Andere bleiben außen vor, die nicht zählen und deren Interessen nicht einmal wahrgenommen werden. Aus der Menge derer, die zählen könnten (Rancière bestimmt sie als “Bevölkerung”) geht stets und unvermeidlich auf selektiv-exklusive Art und Weise eine bestimmte Menge derer hervor, die tatsächlich zählen. Stets wird nicht etwa auf der Ebene derer, die zählen könnten, Konsens hergestellt über die gesellschaftlichen Belange fairen Interessenausgleichs, sondern nur innerhalb eines politisch exklusiven Teilbereichs, der niemals alle einschließt, wie es eine ethische Illusion glauben macht, die überhaupt keine Ausgeschlossenen zuzulassen scheint (UÄ, S. 133 f.).
An der stets und unvermeidlich beschränkten Zählung oder Verrechnung, welche Andere ausschließt, die nicht zählen, entzündet sich, was Rancière Dissens nennt. Das ist nicht irgendeine Meinungsverschiedenheit, sondern bedeutet eine grundsätzliche (in keiner politischen Lebensform je auszuschließende) Anfechtbarkeit der Formation der Menge derer, die zählen. Wenn politisch niemals alle zählen, werden immer einige ausgeschlossen, die sich am inhaltlichen Streit über divergierende Interessen gar nicht erst beteiligen können. Beim Dissens handelt es sich also nicht um einen Konflikt zwischen Interessen, sondern um einen (latenten, in der offenen politischen Auseinandersetzung gerade nicht repräsentierten) Konflikt zwischen denen, die zählen, und denen, die überhaupt nicht in Betracht kommen und deshalb gar nicht erst als Gegner in einem offenen Konflikt auftreten können, obwohl sie dazugehören. Eben deshalb kann Rancière sagen, hier gehe es um eine “strukturell geteilte Gemeinschaft”, die “in Bezug auf sich selbst geteilt ist” (UÄ, S. 133).
Wenn diese – ggf. vielfache, nicht etwa entlang einer einzigen Konfliktlinie sich abzeichnende – Teilung der Gemeinschaft unvermeidlich ist, wird diese nie “rein” sein können; und wenn keine Gemeinschaft je versprechen kann, “reine” Gemeinschaft zu sein, so fragt man sich, ob es nicht allein darum gehen kann, wie sie geteilt wird. Jedenfalls sind wir zu “geteilter Gemeinschaft” nach Rancière gleichsam verurteilt. Dennoch, so scheint es, ist ihm an einer Rehabilitierung politischer Philosophie im Zeichen des Dissenses und sogar umwillen des Dissenses gelegen. Sie kann ihn nicht als bloß Unvermeidliches, politisch aber gewissermaßen nicht Verwertbares (im Interessenausgleich nicht zu Handhabendes) hinter sich lassen; vielmehr muss sie dem Dissens, der sich an jener Verrechnung entzündet, Rechnung tragen, weil nur so das Politische angemessen (!) zu verstehen ist, das den Raum konkreter Politik überhaupt erst eröffnet.
So gesehen könnte man meinen, es gehe Rancière ähnlich wie Hannah Arendt um eine Rehabilitierung eines originären inter-esse, das Menschen voreinander als Andere in Erscheinung zu treten und einen Zeit-Raum gemeinschaftlichen Handelns originär zu stiften erlaubt, in dem man dann auch für einen Ausgleich verschiedener Interessen Sorge tragen könnte. Doch Rancière hat eine in sich gespaltene Zugehörigkeit vor Augen, in und an der Zugehörige keinen Anteil haben und deshalb im Prinzip jederzeit nach einem Anteil der Anteilslosen (part des sans-part; LM, S. 28) verlangen können. Gleich sind alle Zugehörigen, insofern sie nach einem Anteil verlangen können, auch wenn sie gerade keinen Anteil haben und nicht einmal als Subjekte eines möglichen Verlangens wahrgenommen werden. Immer aber bleiben einige oder viele in diesem Sinne unberücksichtigt, so dass die polizeiliche Gemeinschaft, die sich in einer puren Verwaltung auszugleichender Interessen zu erschöpfen scheint, ständig von der Gleichheit in Frage gestellt wird, die sie selbst voraussetzt, aus der sie schöpft und gegen die sie sich zugleich etabliert.
Aus Rancières Sicht ist das inter-esse auch bei Hannah Arendt weit davon entfernt, dieser inneren Spaltung in der politisch-polizeilichen Gemeinschaft Rechnung zu tragen. Nicht nur die gängige Philosophie des Politischen, die (wie er meint) Politik als bloßen Interessenausgleich missversteht, sondern auch deren Re-Interpretation als Ausdruck eines primären, ontologischen inter-esse hätte demnach den Dissens vergessen. Auch Arendt wird deshalb unter die fragwürdigen Theoretiker des Konsenses gerechnet (UÄ, 150). Ob zu Recht oder nicht, bleibe dahingestellt.
Immerhin hat doch gerade Arendt dem in keiner Wahrheit aufhebbaren Streit der Meinungen und Überzeugungen große Bedeutung beigemessen, so sehr sie auch als Aristotelikerin dem Gedanken verpflichtet blieb, in der ontologischen Verfassung eines zu sprachlich verfasster Vernunft bestimmten Lebewesens liege zugleich auch der Sinn eines gemeinschaftlichen oder gesellschaftlichen Mitseins, das in Streit und Konflikt wenigstens nicht diese Bestimmung ruinieren solle. So gesehen dachte sie zweifellos Streit und Konflikt als aufgehoben im Rahmen einer Ontologie politischer Lebewesen, die nicht in Streit, Kampf und Bürgerkrieg ihr Bestimmtsein zu einem vielfach nur noch im Modus des Gegeneinander lebbaren Leben miteinander zerstören sollten.
Dagegen begreift Rancière das (“polizeilich” geregelte) Mitsein selbst als in sich geteilt. In ihm verhalten sich die Inklusion der einen, die zählen, und die Exklusion der anderen, deren Stimme nur noch a-politisches Geräusch macht, wie Vor- und Rückseite derselben Medaille zueinander. Nur auf der Basis einer solchen, doppelsinnig geteilten Gemeinschaft oder Gesellschaft kann es überhaupt zu Problemen distributiver Gerechtigkeit kommen, in denen der gerechte Anteil eines jeden auf dem Spiel steht. So gewinnt Rancière dem Teilen und dem Anteil, der jedem zusteht, im Rekurs auf das vorgängige Geschehen eines inter-esse, in dem man im alten Wortsinne am Leben Anderer Anteil nimmt, wieder einen originären Sinn ab. Anteile zumessen kann man nur dort in fairer Art und Weise, wo man Ansprüche überhaupt wahrgenommen hat; und zwar gerade auch Ansprüche, welche die Betreffenden selbst nicht artikulieren können, weil sie gar nicht Gehör finden, insofern sie nicht zählen.
Die Fairness, die sich liberale Gesellschaften gerne in überaus selbst-gerechter Art und Weise auf die Fahnen schreiben, wird durch das Schweigen derer, die nicht gehört werden, radikal in Frage gestellt. Deshalb scheint Rancière eine Sorge für diejenigen nahe zu legen, die sich nicht artikulieren können und nicht Gehör finden, so dass sie an der wie auch immer geregelten Verteilung gerechter Anteile keinen Anteil haben. Diese, der “polizeilichen” Verwaltung von Interessen immanente Gerechtigkeit verlangt Rancière im Hinblick auf diejenigen zu überschreiten, die an der Verteilung von Anteilen keinen Anteil haben. Doch jede Form einer bislang Anteilslose einbeziehenden Gerechtigkeit wird wiederum Andere unberücksichtigt lassen, also ein Unrecht implizieren. Über einen Taumel von einer in sich un(ge)rechten Gerechtigkeit zu einer neuen Form von Ungerechtigkeit in einer anderen Gerechtigkeit kommt man auf diese Weise grundsätzlich nicht hinaus, so dass jene der Gerechtigkeit immanente Pathologie wiederum als normalisiert erscheint.
5. Gegen ethische Illusionen
Das bestätigt Rancière selbst, indem er die ethische Vorstellung einer universalen Einbeziehung Anderer (auch als Fremder) ausdrücklich als eine un-politische Illusion brandmarkt. Vom endgültigen Scheitern einer allgemeinen Inklusion aller Menschen in eine Brüderlichkeit, Menschheit oder “wahre Menschlichkeit” zeigt sich Rancière unerschütterlich überzeugt (DU, S. 94, 133). Dabei zielt seine Kritik an ethischen Inklusionskonzepten zugleich in zwei Richtungen. Sie wendet sich sowohl gegen ein politisches Sein, das eine ethische Gemeinschaft aller Menschen begründen soll, als auch gegen eine radikale Ethik, die vorgibt, sich von jeglicher Berufung auf irgend eine Art von Ontologie verabschiedet zu haben, um zu zeigen, wie die Menschen gerade als einander Fremde in einem unauslöschlichen ethischen (aber asymmetrischen) Verhältnis zueinander stehen.
Auch eine solche Ethik – und hier scheint Rancière neben Lyotard besonders Levinas im Blick zu haben – wird einer fragwürdigen Homogenisierung verdächtigt, die radikalen, unaufhebbaren Dissens ausschließe, weil sie “alle miteingeschlossen” denke (UÄ, S. 134). Umgekehrt folgt daraus, dass sich für Rancière wirkliche Politik nur dort ereignen kann, wo es Ausgeschlossene geben muss.Den Kern der Politik macht der Dissens in dem radikalen, unaufhebbaren Sinn aus, dass es immer Anteilslose gibt, die noch die vermeintlich gerechteste Verteilung von Anteilen anfechten können. An dieser Stelle entfaltet Rancière eine fragwürdige Polemik, die ihre Zuspitzung einem klaren Frontverlauf verdankt.
Auf der einen Seite, von der sich Rancière energisch absetzt, stehen diejenigen, die angeblich keinen radikal Ausgeschlossenen mehr denken können oder in praktischer Hinsicht nicht wahrhaben wollen, dass es immer und unvermeidlich Ausgeschlossene gibt. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die auch dem humanitärsten politischen Programm und dem radikalsten Humanismus nicht zutrauen, eine universale Einbeziehung jedes Anderen zu denken bzw. praktisch zu ermöglichen. Einbezogen werde der Andere allenfalls in der sei es karitativen, sei es sentimentalen Gestalt dessen, der “aus bloßem Zufall aus der großen Gleichheit aller mit allen gefallen ist: der Kranke, der Zurückgebliebene oder Aufgegebene, dem die Gemeinschaft die Hand reichen muss, um den ‚sozialen Zusammenhalt’ wiederherzustellen” (UÄ, S. 134). Einbezogen werde er aber gerade nicht in der Form des radikal Anderen, “den nichts von der Gemeinschaft trennt, außer die einfache Tatsache, dass er ihr fremd ist, dass er nicht die Identität teilt, die jeden mit allen verbindet, und die er somit in jedem bedroht”. Worum es sich summa summarum im Denken einer geradezu “entpolitisierten”, sei es nationalen, sei es internationalen oder kosmopolitischen Gemeinschaft handle, sei eine “kleine Dogville-Gemeinschaft, in der Doppelung von gesellschaftlicher Dienstleistung im Nahbereich und absoluter Zurückweisung des Anderen” (ebd.).
Letzteres wird nun unter Hinweis auf die berüchtigte “Ethik” der infinite justice des Kampfes gegen die nach Belieben ausgemachten “Achsen des Bösen” illustriert. Bekanntlich zeigte die entsprechende Propaganda zuletzt in der Folter der auf Guantànamo Inhaftierten ihr wahres Gesicht. Sie offenbart ihre Kehrseite in der absoluten Entrechtung derer, die in Rancières Logik “absolute Zurückweisung” erfahren, insofern sie mit jenem “radikal Anderen” identifiziert werden. Diese “Gerechtigkeit” maßt sich im Namen der Opfer dieser “Anderen” (d. h. der “Feinde Amerikas” bzw. der “Koalition der Gutwilligen”) und im Namen ihrer Menschenrechte ein nahezu beliebig zum nationalen Vorteil einzustreichendes Interventionsrecht an und schlägt so in vollkommene Entrechtung der “Anderen” um. So gesehen hat gerade die Programmatik der universalen Einbeziehung des Anderen die unvermeidliche Kehrseite der radikalsten Exklusion – was bestätigen würde, wovon Rancière sich ohnehin überzeugt zeigt: dass es immer und unvermeidlich Ausgeschlossene gibt. Die “Ethik” der unendlichen Gerechtigkeit würde demnach genau bestätigen, worum es Rancière zu tun war: sie würde die Existenz echter Politik gerade dort aufweisen, wo man alle Menschen, zumindest diejenigen “guten Willens”, eingeschlossen und damit Politik zu bloßer Ethik neutralisiert oder als deren bloßes, vollkommen legitimes Instrument begründet zu haben schien. So wird freilich der fatale Eindruck erweckt, die imperiale Politik der ehemaligen Bush-Administration lasse sich als politisch klarste Interpretation dessen verstehen, was andere die Einbeziehung des Anderen genannt haben – die nun gerade nicht die “absolute Zurückweisung” ethisch Fremder legitimieren sollte. Während der ehemalige amerikanische Präsident einer geradezu archaisch-manichäischen Dichotomie von Menschen “guten Willens” (=Amerikaner plus Koalitionen sog. Gutwilliger) einerseits und gerechtfertigen Opfern jener unendlichen Gerechtigkeit andererseits das Wort redete, sollte die Einbeziehung dem Anderen angesichts seiner Fremdheit gelten.
Gewiss kann man bezweifeln, ob etwa Habermas und Levinas unter Fremdheit dasselbe verstehen. Doch in beiden Fällen soll die Einbeziehung des Anderen keinesfalls die Entrechtung irgendeines Fremden oder einen als bloße Sicherheitsmaßnahme gedachten, in Wahrheit aber “endlose[n] Krieg gegen den Terror” rechtfertigen, der einigen zur Last gelegt wurde (UÄ, S. 136). Mit anderen Worten: die Bushs, Chaney und Rumsfeld waren nicht die idealen Interpreten der Programmatik der Einbeziehung des Anderen. Doch das ist vielleicht Nebensache im Vergleich zu der grundsätzlichen Frage, was sich in dieser Programmatik selbst ihrer Instrumentalisierung im Namen der Sicherheit einer nationalen oder internationalen Gemeinschaft widersetzt, die womöglich nur nach Vorwänden für neue, radikale Exklusionen sucht.
Von Arendt bis Habermas würde man zweifellos argumentieren, es sei das elementare Menschenrecht eines jeden, ganz gleich, um wen es sich handelt, ganz gleich, was er oder sie getan hat, nicht dem Schutz des Rechts entzogen zu werden. Dagegen erhebt sich, wie Rancière selbst unter Verweis auf Burke, Marx und Arendt, feststellt, der “nicht neue” Einwand, dieses Menschenrecht versage mangels politischer Verortung immer dann, wenn es als letzter Schutz “nackter Menschen” ins Spiel kommen müsste. “Der nackte Mensch, der unpolitische Mensch […], ist ohne Rechte. Er muss etwas Anderes als nur Mensch sein, um Rechte zu haben. Dieses Andere des Menschen wird traditionell ‚Bürger’ genannt” (UÄ, S. 137). Wer aber kein Bürger mehr sei, entbehre folglich jeglichen Rechts. Deshalb insistierte Hannah Arendt immer wieder auf einem unverzichtbaren Recht (bzw. Anspruch), überhaupt einem politisch-rechtlichen System zugehören zu dürfen, wohl wissend, wie ohnmächtig eine solche, als bloßes Postulat daherkommende Forderung in einer Zeit erscheinen musste, die alle sog. displaced persons und Staatenlosen zwischen hermetisch abgeschotteten nationalen Ordnungen rechtlich wie Luft zu behandeln schien.
So schwer diese nach wie vor ungelösten Fragen nach einer politischen Verortung dieses Rechts wiegen, die sich einer partikularen politischen Instrumentalisierung zu widersetzen verspräche, so sehr irritiert der bei Rancière anklingende Objektivismus in der Beschreibung der theoretischen und praktischen Alternativen, die uns offen stehen. Wer etwa befindet (mit welchem “Recht”), dass der “nackte Mensch” keine Rechte hat und dass er ein unpolitisches Wesen ist? Wer kann umgekehrt mit welchem Recht behaupten, bloß Mensch zu sein genüge, um Rechte zu haben? Bleibt uns am Ende nur die “Option”, ein Recht auf Rechte zu postulieren, oder aber dieses nicht in letzter Instanz zu begründende Recht in Abrede zu stellen, eben weil es einer letzten Begründung entbehrt?
Rancière erwägt mit Bezug auf Lyotard und Agamben zwei Alternativen (vgl. UÄ, S. 136 ff.). Entweder man gibt mit Lyotard dem Recht, was er eine “ethische Wende” nennt, und behauptet die “Abhängigkeit des Menschlichen in Hinsicht auf ein absolut Anderes, das er nicht beherrschen kann”: das “Gesetz des Anderen”. In diesem Falle würde alles davon abhängen, dass Zeugnis abgelegt wird von dieser Abhängigkeit. Wer sich von diesem Zeugnis überzeugen lässt, wird daran glauben, dass es ein “Recht des Anderen” bloß als eines Anderen “gibt”. Dieses Zeugnis haben wir, so scheint es, einer historischen Katastrophe zu verdanken, die gerade die vollkommene Liquidierung jeglichen Rechts oder Anspruchs Anderer zu bedeuten schien. Oder aber man erkennt umgekehrt mit Agamben in der absoluten Nivellierbarkeit jeglichen Anspruchs und Rechts des Anderen, wie sie die Fußballspiele zwischen der SS und den sog. Sonderkommandos inszeniert zu haben schienen, die Wahrheit über die Bodenlosigkeit eines Rechts, das nichts und niemand je einfach “hat” – weder von Natur aus noch von Geburt an, weder als politisches Lebewesen noch als Gottes Geschöpf, usw. (vgl. UÄ, S. 138).
In diesem zweiten Fall wird einer kontingenten historischen Situation Beweiskraft zugeschrieben. Ausdrücklich befindet Agamben, der Mensch habe sich in den KZ als radikal zu Entwürdigender herausgestellt. Es sei geradezu unwürdig, noch davon auszugehen, hier habe eine jedem Anderen zukommende Würde der vernichtenden Gewalt standgehalten. Aber stellt Agamben auf diese Weise historische Tatsachen fest? Steht und fällt das, was man in diesem Fall als historischen Befund gelten lässt, nicht ganz und gar mit der Bezeugung derer, die im Modus der geschichtlichen Erinnerung ihrerseits zu Zeugen des Geschehenen werden? Zu diesem Schluss muss m. E. die hermeneutische Reflexion der Zeugenschaft tatsächlich kommen.
Das bedeutet freilich nicht, dass nun im Gegenzug Lyotard ohne Umschweife Recht zu geben wäre. Was Rancière mit Blick auf Lyotard (an anderer Stelle auch auf Levinas; vgl. DU, S. 144 f.) “Unterwerfung unter das Gesetz des Anderen” nennt, ist nur eine, höchst anfechtbare Interpretation eines angeblich keiner Gewalt zur Disposition stehenden Anspruchs des Anderen, nicht gewaltsam traktiert zu werden. Was in einer jüdischen Lesart des Gesetzes ohne weiteres verständlich sein mag, stellt sich auf der offenen, von vielfachem Dissens durchkreuzten Agora des politischen Diskurses doch keineswegs als unanfechtbare Evidenz dar. Levinas war in manchen (aber keineswegs in allen) Schriften denn auch vorsichtig genug, sich an die jüdische Religion nur anzulehnen, ohne sich auf sie exklusiv berufen zu wollen. Wäre letzteres nötig, um einen selbst der vernichtenden Gewalt standhaltenden Anspruch des Anderen verständlich zu machen, so könnten ihm Anders-, Un- und Nichtgläubige bzw. säkulare Menschen jeglicher Couleur ohnehin nicht folgen.
Löst man die Bezeugung des Anspruchs des Anderen von einer exklusiven Berufung auf eine partikulare Religion aber ab, dann können wir weder von einer “Unterwerfung” unter ihn noch von einem mit ihm verbundenen “Gesetz” ohne weiteres ausgehen. Ein Gesetz, das uns ohne Möglichkeit der Widerrede befiehlt, was zu tun ist, steht sogar einem verantwortlichen Zeugnis entgegen, das es nur auf der Basis von Antwortspielräumen geben kann. Nur wo es solche Spielräume gibt, kann es auch eine Bezeugung des Anspruchs des Anderen geben, die niemals bloß kausale Wirkung einer Ursache noch auch bloße Befolgung eines Gesetzes sein kann. Eine so verstandene Bezeugung lässt nicht den Schluss zu, dass jeder ein absolutes Recht “hat”, da dieses Recht, nicht völlig entrechtet zu werden, seinerseits nur auf der schwachen, menschlichen Grundlage der Bezeugung beruhen kann, die auch die historische Zeugenschaft inspiriert. Und diese liefert niemals einen Beweis für jenes Recht. Die Zeugenschaft widerstreitet aber auch dem Agambenschen Objektivismus vermeintlich empirischer Feststellungen über die Möglichkeit absoluter Entwürdigung. Was sich in den Lagern ereignet hat, wird niemals unabhängig von menschlicher, nachträglicher Bezeugung objektiv festzustellen sein wie ein bloß empirisch aufzulesender Befund.
6. Einbeziehung radikaler Feinde?
Das gilt im Übrigen auch für den Anspruch radikaler Feinde, nicht im Namen einer ethischen Gemeinschaft radikal von dieser ausgeschlossen zu werden. Das gleiche Zeugnis, das sich der Entrechtung der Opfer widersetzt, stellt sich auch einer Entrechtung alter und neuer Feinde in den Weg. Mit Levinas wäre zu argumentieren, dass es anti-politisch ins Politischeund in jede Politik hineinwirken muss, die sich anmaßt, sei es auch unter Berufung auf die Menschenrechte eine exklusive Gemeinschaft zu formieren, die gegen Feinde eine entrechtende Gewalt entfesseln könnte. Wenn Politik unvermeidlich, wie Rancière meint, zu solchen Exklusionen neigt und sie selbst in ihren normativ fortgeschrittenen Versionen nur auf die eine oder andere Art normalisiert, so zeigt das nur, dass das Politische bzw. Politik, die ihren Namen verdient, niemals sich selbst genügen kann. Die ihr innewohnende Gewalt von Ausschließungen bedarf eines Korrektivs, das es ihr verwehrt, sich mit ihnen indifferent einfach deshalb abzufinden, weil sie eben unvermeidlich zu sein scheinen, wie Rancière zeigt (der damit, unfreiwillig und seinen eigenen Intentionen zum Trotz, einem gleichgültigen Sicharrangieren mit Ausschluss und radikalem Dissens in die Hände spielt).
So, d. h. umwillen des Politischen anti-politisch zu argumentieren, bedeutet keineswegs “Ethik” als Allheilmittel gegen Exklusionen zu empfehlen. Ethisches Verhalten, das noch dem radikalen Feind einen Anspruch zuerkennt, nicht un-menschlich behandelt zu werden, kann sich nicht abseits der Politik und noch viel weniger souverän gegen sie behaupten. Es muss sie gleichsam durchqueren und so riskieren, kompromittiert zu werden. Andernfalls würde es sich fragwürdigen Illusionen politischer Abstinenz hingeben und damit zum willenlosen Komplizen einer sei es politischen, sei es polizeilichen Logik werden, die es sich selbst überlassen hat.
So unbefriedigend für viele ein Humanismus des Anderen Menschen (Levinas) in politischer Hinsicht sein mag, eine Repolitisierung im Sinne Rancières verweist uns letztlich doch wieder an ihn zurück. Damit ist vorläufig freilich nur ein Desiderat benannt: das Erfordernis einer radikalen Revision des Verhältnisses zwischen dem Ethischen und dem Politischen.
Burkhard Liebsch ist Professor für Philosophie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig. Liebsch eröffnete am 29. April 2010 die von Michael Staudigl am IWM
organisierte Konferenz Unaufhebbare Gewalt? Phänomenologie und Gewalt III. Der vorliegende Artikel basiert auf dem VI. Kapitel seines im Herbst 2010 erscheinenden Buches Renaissance des Menschen? Zum polemologisch-anthropologischen Diskurs der Gegenwart, Weilerswist 2010
Anmerkungen
Vgl. J. Baudrillard, Der symbolische
Tausch und der Tod, München 1982, S. 195.
Vgl. dazu ausführlich
v. Verf., Moralische
Spielräume, Göttingen 1999.
Vgl. Aristoteles, Politik 1253a,
Reinbek 1994, S. 47.
G. Agamben, Was von Auschwitz
bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt am Main 2003.
Tr@nsit online, 2010
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