Ingo Petz: Ein gewaltfreier Protest getragen vom Zorn der Frauen, Mütter und Großmütter

16.08.2020
Chronicle from Belarus
Authors:

14. August. 2020

Ingo Petz
Ein gewaltfreier Protest getragen vom Zorn der Frauen, Mütter und Großmütter

In den vergangenen 25 Jahren haben wir immer wieder erlebt, dass sich das Regime in Minsk dann besonders findig zeigt, wenn es mit dem Rücken zur Wand steht. Auch heute morgen wurden wieder hunderte Gefangene entlassen. Sicher auch, weil die Kapazitäten einfach am Limit sind und nicht unbedingt aus Konzession zu den Protesten. Ich bin also noch sehr vorsichtig, was „die letzten Zuckungen des Regimes“ anbelangt. Mindestens bin ich hin- und hergerissen.

Was sehr überraschend für alle sein dürfte, nicht zuletzt für die Belarussen selbst: Dieser Protest hat seine eigenen Mechanismen und Wege entwickelt, die sich aus dem reichhaltigen Fundus des zivilen Ungehorsams, der tiefsitzenden und verinnerlichen Partisanenkultur und dem langen Leben in einem autoritären, äußerst repressiven Regime speisen. Er mag chaotisch und unorganisiert wirken, aber er muss deswegen nicht weniger effektiv sein. Die Leute durchbrechen die unter Lukaschenka eingeübte Spirale aus Angst, Verdrängung und Apathie und unterminieren so die Fundamente des Regimes.

Das ist auch kein Protest mehr, sondern ein Aufstand, der im ganzen Land, auf vielen Ebenen und mit unterschiedlichen Mitteln ausgetragen wird. Belarus bereichert damit schon jetzt die Revolutionskultur um ein Vielfaches und bricht dabei auch mit Stereotypen. Ich kenne Belarus seit 25 Jahren und bin zutiefst beeindruckt.

Zudem: Die Menschen haben aufgrund der vielen Kriege in ihrem Land, aufgrund des Stalin-Terrors und der Repressionen unter verschiedenen Herrschern eine tiefe Abneigung gegen Gewalt entwickelt. Das macht die Belarussen nicht zu Engeln oder Pazifisten, aber diese Erfahrung spielt aktuell eine Rolle. Vor allem auch, wenn Eltern und Großeltern nun in Massen vor den Gefängnissen in Zhodina oder von Akrestsyna stehen und ihre Kinder und Enkel suchen, weil sie nicht wissen, wo sie stecken, und weil sie befürchten müssen, dass ihre Nächsten gefoltert und geschlagen werden. Das erinnert die Menschen an die dunkelsten Zeiten der belarussischen Geschichte, als Angehörige spurlos verschwanden und nie mehr nach Hause zurückkehrten. Der Zorn, vor allem der Mütter und Großmütter, ist zweifelsohne groß. Dieser wird sich auch weiter in die großen staatlichen Unternehmen tragen. Das große Minsker Vorzeigewerk BelAZ mit über 10.000 Mitarbeitern streikt bereits. Forderungen: Abdankung von Präsident und Regierung. Nachrichten von ähnlichen Streiks und Forderungen sind auch von anderen Werken im Umlauf und im Gange. Dies ist also auch ein Aufstand gegen die eigenen kulturhistorischen Fesseln, der – und da bin ich überzeugt – das Regime nun erschüttern wird.

Woher kommt die Wut noch? Die Freigelassenen zeigen deutliche Spuren von Gewalt und Folter. Mittlerweile gibt es dazu zahlreiche Berichte und Dokumentationen, die abermals beweisen, wie sadistisch und kriminell der sogenannte Sicherheitsapparat des Regimes im Kern tickt. Wer näher an Belarus dran ist, wird wissen, dass diese Methoden schon lange zum Regime gehören, auch wenn dies einer breiten Öffentlichkeit bei uns nicht wirklich bekannt ist. Ich glaube auch, dass das in diesem Maße nicht der breiten Masse in Belarus bekannt war, da Berichte darüber mitunter als Propaganda der Opposition abgetan wurden. Das ändert sich nun, da leider viel mehr Menschen betroffen sind.

Ich habe aber auch das Gefühl, dass die Bürgermeister und andere offiziellen Vertreter gestern zu den Protestlern und Streikenden geschickt bzw. abkommandiert wurden, um Druck rauszunehmen – in Belarus selbst, aber auch um die EU zu beschwichtigen und zu täuschen. Evtl. versucht das Regime Zeit zu gewinnen. Auch deswegen konnte die Bevölkerung am gestrigen Donnerstag relativ frei agieren. OMON und Polizei griffen weitgehend nicht ein.

Es gibt einfach zu viele Gründe für die kriminellen Hardliner des Regimes, einen Wandel mit allen Mitteln verhindern zu wollen. Möglicherweise stellt sich das Regime gerade neu auf. Vielleicht werden mögliche Rückzugsräume vorbereitet. Aber vielleicht wird auch ein neuer Crackdown organisiert. Vorsicht ist ratsam.

Ingo Petz ist freischaffender Journalist und Autor aus Berlin; von Januar bis März 2017 war er Milena Jesenska Visiting Fellow am IWM.

 

The article gives the views of the author, not the Institute for Human Sciences (IWM).