Es gibt wenige Bereiche der Kulturwissenschaften, die in den letzten Jahren so produktiv und kreativ waren wie die Erinnerungsforschung. Sie hat begonnen, sich aus der Nationalgeschichte zu lösen und befasst sich zunehmend mit der transnationalen Erinnerung an die Shoa und/oder mit einem konflikthaften europäischen Gedächtnis. In der Folge dieser Verschiebung wird kollektives transnationales Gedächtnis oft mit Trauma gleichgesetzt. Der Essay zeigt die Konsequenzen der Gleichsetzung von Gedächtnis und Trauma auf und beleuchtet Perspektiven für einen breiteren Zugang zur Erforschung transnationaler Erinnerung, die nicht auf der Kategorie „Trauma“ basieren.
Die Blüte der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung scheint sich dem Ende zu zuneigen, dennoch reihen sich Jahr für Jahr neue, kreative Publikationen in die mittlerweile überlange und unübersichtliche Literaturliste ein. Maurice Halbwachs, der mit seiner Studie Les cadres sociaux de la mémoire (1925) durchaus als Begründer dieses Forschungsgebietes gelten darf, wäre sicherlich erstaunt und geschmeichelt, welche Karriere seine bald 90 Jahre alte Idee eines sozial bedingten Gedächtnisses gemacht hat.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen konzentriert sich die Erinnerungsforschung auf nationale Erinnerungsorte, Symbole, Mythen und deren Ritualisierung, die für die Konstruktion einer nationalen Identität relevant sind. Pierre Nora war der erste, der in Les lieux de mémoire (1984-1992) kollektive Erinnerung und Gedächtnis in einem nationalen Kontext verortete. Weitere Werke folgten, etwa für Ungarn Tamás Hofer Displaying Hungary’s Lieux de Mémoire (1994), für Deutschland François Etienne und Hagen Schulze Deutsche Erinnerungsorte (2001) oder für Österreich Emil Brix u.a. Memoria Austriae (2005). Innerhalb der Geisteswissenschaften ist es mittlerweile ein Gemeinplatz, dass ein nationaler Fokus seine Grenzen hat. Er reproduziert nicht nur implizit die ideologischen Denkvorgaben des 19. Jahrhunderts, die er zu erklären vorgibt, sondern vernachlässigt gleichzeitig die Bedeutung transnationaler Kommunikation und Interaktion. Dabei haben aktuelle Studien, die sich mit der kollektiven Formierung nationaler Identitäten beschäftigen, wie z.B. mit dem Nationalismus als historisches Phänomen, herausgearbeitet, wie wichtig transnationale Wechselbeziehungen für Prozesse waren, die lange als spezifisch national erachtet worden waren. Neuere historiographische Zugänge wie die postkoloniale Geschichte und Globalgeschichte haben die transnationale Vernetzung verschiedener Entwicklungen betont. Dieser Paradigmenwechsel innerhalb der Geisteswissenschaften wirft also die Frage auf, warum die Forschung zum kollektiven Gedächtnis auf eine nationalen Ebene beschränkt bleiben soll.
Transnationale Erinnerung an die Shoa
Erst vor etwa zehn Jahren haben sich Forscher der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung über die nationale Rahmensetzung hinweg gewagt. Daniel Levy und Nathan Sznaider waren die ersten, die in ihrem Buch Erinnerung im Globalen Zeitalter. Der Holocaust (2001) die Frage nach einer globalen Erinnerung an die Shoa stellten. Basierend auf Ulrich Becks Konzept einer “Zweiten Moderne” definierten sie die globale Erinnerung an die Shoa als Ergebnis einer “inneren Globalisierung” und “Kosmopolitisierung”.
Unter den aktuelleren Studien zur transnationalen Erinnerung an die Shoa haben sich zwei gegensätzliche Argumentationslinien herausgebildet. Einige Forscher, wie etwa Walter Benn Michaels in seinem Buch The Trouble with Diversity (2006), behaupten, dass die Shoa in diverse nationale Gedächtnisse mit dem Ziel aufgenommen wurde, autochthone Genozide und Gräueltaten zu marginalisieren bzw. vergessen zu machen und nationale Mythen zu stützen, die ein idealisiertes Bild der Vergangenheit malen. Diesem Argument liegt die Idee konkurrierender kollektiver Erinnerungen zugrunde. Demnach ist die öffentliche Sphäre ein begrenzter Raum, in dem bereits etablierte Gruppen in einem Kampf um die knappe Ressource Aufmerksamkeit verwickelt sind. Wenn es einer Gruppe gelingt, ihrem kollektiven Gedächtnis eine hegemoniale Stellung in der Öffentlichkeit zu verschaffen, verdrängt sie damit gleichzeitig das konkurrierende Gedächtnis einer anderen Gruppe aus dem Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit.
Im Gegensatz dazu steht das Konzept eines multidirektionalen Gedächtnisses, das Michael Rothberg in seiner 2009 veröffentlichten Studie Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization eingeführte. Es sieht die öffentliche Sphäre als dehnbaren diskursiven Raum, in dem Gruppen nicht nur einfach ihre etablierten Positionen austauschen und verhandeln, sondern ständig ihre Identitäten durch dialogische Interaktionen miteinander rekonstruieren. Logischerweise, so Rothberg, behindere die Erinnerung an die Shoa nicht die Erinnerung an andere Gräueltaten, wie z.B. die Erinnerung an den stalinistischen Terror in Osteuropa. Genau das Gegenteil sei der Fall. Die kollektive Erinnerung an die Shoa biete vielmehr eine Plattform, auf der die Rezeption anderer Massenverbrechen in der Vergangenheit und in der Gegenwart verhandelt werden könne. Nach Rothberg hat die Erinnerung an die Shoa deshalb das Potential, neue Formen von Solidarität und neue Visionen von Gerechtigkeit zu generieren. So könnte man argumentieren, dass die Diskussion bei der Eröffnung des US Holocaust Memorial Museum im Jahr 1993, ob das öffentliche Gedenken an ein primär europäisches Ereignis an derart prominenter Stelle in Washington überhaupt gerechtfertigt sei, stark dazu beigetragen hat, den marginalen Stellenwert der Sklaverei zu revidieren und diese als zentrales autochthones Verbrechen anzuerkennen. Ähnliches gilt auch für den Genozid an den Armeniern zwischen 1915 bis 1916. Erst die Holocaustforschung stellte eine präzise Definition eines Völkermordes auf und verschaffte so dem Genozid an den Armeniern angemessenes Gehör. Nach der Logik des multidirectional memory lässt es sich aber kaum verhindern, dass die kollektive Erinnerung an ein traumatisches Ereignis wie die Shoa auch fragwürdigen Anliegen Aufmerksamkeit verschafft, wie etwa das nach der Anerkennung der Vertreibung der Deutschen oder der Nakba, der Vertreibung der Palästinenser als Völkermord.
Umstrittene Europäische Erinnerung
Ein weiterer Bereich innerhalb der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung, der sich mit dem kollektiven Gedächtnis jenseits nationaler Grenzen beschäftigt, sind die Forschungen zu einer europäischen kollektiven Erinnerung. Diese relativ neuen Arbeiten konzentrieren sich entweder auf das verflochtene Gedenken an “Europas dunkle Vergangenheit” des 20. Jahrhunderts, seien es die Weltkriege, die Shoa oder andere Genozide, Vertreibungen, Massenvergewaltigungen oder die stalinistischen Verbrechen. Ein weiteres Thema dieses Forschungsgebietes sind die verflochtenen Erinnerungen von Nationen, welche eine gemeinsame konflikthafte Geschichte haben, die im 20. Jahrhundert in einer gewalttätigen Auseinandersetzung gipfelte. So z.B. zwischen Deutschland und Polen oder als Gegensatz zwischen Mehrheit und Minderheit innerhalb einer Nation wie Polen und Juden. Zu nennen wären hier u.a. Poles, Jews and the Problem of a Divided Memory (2004) von Antony Polonsky, Fear: Anti-Semitism in Poland After Auschwitz (2006) von Jan Gross, Shared History – Divided Memory. Jews and Others in Soviet-occupied Poland (2007) von Elazar Barkan u.a., Katrin Steffens Aufsatz Disputed Memory. Jewish Past, Polish Remembrance (2008) oder ganz neu Hans Henning Hahns und Robert Trabas Deutsch-Polnische Erinnerungsorte (2012). Mit diesem Themenspektrum vor Augen verwundert es nicht, dass diese Studien ein europäisches kollektives Gedächtnis als “umkämpft”, “geteilt”, “umstritten” oder “widerstreitend” charakterisieren. Die Autoren dieser Arbeiten gründen ihre Thesen nicht auf Benns Konzept eines “konkurrierenden Gedächtnisses” und argumentieren deshalb auch nicht, dass es Gewinner und Verlierer in der Auseinandersetzung um diese kollektiven nationalen Gedächtnisse gibt. Sie kommen zu der nicht sehr überraschenden Schlussfolgerung, dass die verflochtenen kollektiven Gedächtnisse und die Erinnerung an Kriege, Gräueltaten und feindliche Beziehungen eine verflochtene konflikthafte Geschichte fortsetzen und daher ihrerseits eine konfliktträchtige Dynamik entwickeln.
Im Allgemeinen kann man feststellen, dass der Fokus dieser Studien über die transnationale Erinnerung an Konflikte, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und andere traumatisierende Ereignisse des 20. Jahrhunderts schwerwiegende Konsequenzen für die zu erwartenden Ergebnisse hat. Erstens sind diese Studien über die verflochtenen kollektiven Erinnerungen an Kriege und Gräueltaten zwischen antagonistischen Nationen bzw. Gruppen in Bezug auf ihre zeitliche Aussagekraft limitiert. Sie beschäftigen sich meist mit dem kollektiven Gedächtnis nach 1945, das auf durch Massenmedien vermittelte Mnemotechniken und Erinnerungspraktiken basiert. Zwar können die daraus gewonnen Erkenntnisse für transnationale kollektive Gedächtnisse im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert verallgemeinert werden. Für frühere Perioden, in denen spätere Erinnerungspraktiken entwickelt und nachhaltig geprägt wurden, besitzen sie jedoch oft nur bedingt Gültigkeit. Vermittlungswege, Kommunikation, Rezeption und Präsentation kollektiver Erinnerung, Erinnerungsorten und -traditionen waren und sind stark von der Zeit abhängig, in der sie stattfinden. Zudem stehen kollektive Erinnerung, Vermittlung und Erinnerungspraktiken in einem reziproken Wechselverhältnis, so dass eine Anwendung der Erkenntnisse, die aus der Erforschung des kollektiven Gedächtnisses in der Nachkriegszeit stammen, einer ahistorischen ex-post Analyse gleichkäme.
Noch wichtiger ist, dass die Konzentration der Forschung auf kollektive Erinnerungen in der Gegenwart keine diachrone Perspektive auf das Gedächtnis offeriert und deshalb die dynamische Transformation von Erinnerung und Gedächtnis über einen längeren Zeitraum hinweg nur bedingt beleuchtet. Der vorherrschende präsentistische Blick der Erinnerungsforschung suggeriert, dass transnationale kollektive Erinnerung erst entstanden ist, nachdem die erinnerten Ereignisse im 20. Jahrhundert stattgefunden hatten. Diesem Ansatz zufolge eliminierte, veränderte, verschmolz oder unterstützte diese Ausdrucksform moderner kollektiver Erinnerung nicht bereits bestehendes modernes Gedenken, sondern füllte ein Erinnerungsvakuum. Dies wäre ebenfalls ein ahistorisches Verständnis von kollektiver Erinnerung.
Zweitens entwickelt sich nach traumatischen Ereignissen eine spezifische Dynamik zwischen Opfern, Tätern, Zuschauern und früheren Feinden, zwischen beschuldigenden Augenzeugenberichten, Schuldbekenntnissen, ausweichenden Stellungnahmen, Verleugnung oder unverblümten Lügen und später zwischen dem Bedürfnis der zweiten und dritten Generation nach Genugtuung oder Entlastung. Diese Dynamik wiederum kreiert einen einzigartig emotional aufgeladenen Erinnerungsraum. Dieser Fokus auf erinnerte Traumata ist sicherlich legitim, wenn Nationen oder Gruppen versuchen, eine Vergangenheit zu bewältigen, die von Gewalt geprägt ist, sei sie erlitten oder begangen. Jedoch könnten die theoretischen Schlussfolgerungen, die aus der Erforschung von traumabasierter Erinnerung stammen, problematisch sein für die Analyse von kollektiver Erinnerung, die nicht den Gegensatz zwischen Opfern und Tätern behandelt. Auch bei Fällen, in denen Opfer zu Tätern werden und Täter zu Opfer oder beide Rollen vermischt sind, können in dieser Hinsicht Probleme auftreten. Diese emotionale Aufladung nationaler und transnationaler Erinnerungsräume erklärt auch, warum in Ländern wie Polen ein derart heftiger und meist unproduktiver Widerstand gegen die Relativierung der nationalen martyrologia in Hinblick auf die jüdische Opfer besteht, die über Generationen hinweg weitergegeben wurde. Es scheint, als ob es schlicht keinen Mittelweg in der kollektiven Erinnerung an eine Massentraumatisierung geben kann. Auch in Deutschland kippte der post-68er Fokus auf die eigene Täterschaft ab 2000 in die Anmaßung einer eigenen Opferrolle, sei es im Luftkrieg oder während der Vertreibung, so, als ob es auch dort nur Täter und Opfer, aber keine Mitläufer, Duckmäuser oder andere Zwischenkategorien gegeben hätte.
Darüber hinaus können die Modelle, die auf der Analyse der kollektiven Erinnerung an Krieg und Genozide beruhen, nur schwer auf Erinnerungsorte angewandt werden, die nicht auf einem historischen Trauma basieren. Sie helfen uns nicht, die politischen, sozialen und kulturellen Aspekte eines transnationalen Gedächtnisses jenseits der Dichotomie von Opfer und Täter zu verstehen. Der Fokus auf Trauma mag ein offensichtlicher, leicht (be-)greifbarer und damit identitätsstiftender Ausdruck unseres modernen kollektiven Gedächtnisses bzw. eines modernen europäischen Gedächtnisses darstellen. Dennoch kann es nicht die einzige zentrale Kategorie sein, mit der man größere transnationale Erinnerungsdiskurse zu fassen und verstehen versucht. Solch ein verengter Blick marginalisiert die Existenz und Bedeutung von transnationalen Erinnerungsorten und Erinnerungspraktiken, die nicht auf Trauma und Leid basieren, wie u.a. das Zeitalter der Aufklärung, der transnationale und nationale Pantheon der Philosophen, Autoren und Künstler wie Goethe, Aristoteles oder Da Vinci, politische Figuren wie Kaiser Franz Josef oder geographische Erinnerungsorte wie etwa Galizien und Odessa.
Erlösungsanspruch des kollektiven Gedächtnisses?
Drittens fügt die von Aleida Assmann in ihrer Studie Der lange Schatten der Vergangenheit (2006) eingeführte Anwendung der Bergsonschen und Freudschen Idee des erlösenden Charakter der individuellen Erinnerung auf das Konzept eines sozial konstruierten Gedächtnisses diesem eine normative, moralische Dimension hinzu, die in verschiedener Hinsicht zu diskutieren ist. Existierende Studien über transnationale kollektive Erinnerung beschäftigen sich meist mit der Erinnerung an eine gewalttätige oder konflikthafte Vergangenheit und haben es deshalb – grob ausgedrückt – mit zwei unterschiedlichen Erinnerungen ein und derselben Vergangenheit, sei es ein Ereignis, ein Prozess, ein Ort oder eine Person, zu tun: Eine Erinnerung ist beeinflusst von der Sichtweise des Opfers oder Feind A, die andere von der des Täters bzw. Feind B. Aus unserer postmodernen ex-post Perspektive ist es völlig klar, wer Erlösung verdient. Es ist selbstverständlich das Opfer. Deshalb geben wir der kollektiven Erinnerung der Opfer den Vorzug. Gewähren ihr hegemonialen Status, der Erlösung garantiert. Die Täter verdienen aus unserer Sicht keine Erlösung durch ihre eigene, oft apologetische, kollektive Erinnerung. Ihrem kollektiven Gedächtnis sprechen wir die Berechtigung ab. Wir wollen es am liebsten ignorieren oder gar als unwahr und historisch falsch aburteilen. Um erlöst zu werden, verlangen wir von den Tätern, dass sie sich dem kollektiven Gedächtnis der Opfer unterwerfen. Lutz Niethammer weist in seinem Artikel Erinnerungsangebot und Erfahrungsgeschichte. Institutionalisierungen mit kollektivem Gedächtnis (1992) berechtigterweise darauf hin, dass das Freudsche Verständnis vom individuellen Gedächtnis oft unreflektiert auf Maurice Halbwachs soziologischen Zugang angewandt wird. Auf den Punkt gebracht heißt dies, dass man ein Kollektiv, das sich an ein Trauma erinnert, kaum auf ein individuelles Sofa legen und dann auf Heilung hoffen kann.
Noch komplizierter wird es, wenn man den Blick auf Erinnerungsorte wirft, die von Opfern und Tätern geteilt wurden, die im Laufe der Ereignisse die Rollen getauscht haben. Dies war z.B. der Fall, als Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg das nunmehr polnischen Schlesien verlassen mussten oder als die Sudetendeutschen aufgrund des Erlasses der Beneš Dekrete 1945 aus der Tschechoslowakei vertrieben wurden. Ähnlich kompliziert ist die Konstellation, wenn zwei Opfer um die Anerkennung als die einzigen echten Opfer kämpfen bzw. nicht anerkennen wollen oder können, dass es neben ihnen selbst noch andere Opfer gibt. Dies ist u.a. der Fall in der Beziehung zwischen Polen und Juden, die ihren wohl quälendsten Ausdruck in der von Jan Gross’ Buch Neighbors: The Destruction of the Jewish Community in Jedwabne, Poland (2001) entfachten Debatte um Jedwabne findet. Dass dieses Thema in Polen noch lange nicht ausgestanden ist, zeigt die neueste Studie Okrzyki Pogromowe. Szkice z Antropologii Historycznej Polski lat 1939–1946 (2012), die von der Kulturanthropologin Joanna Tokarska-Bakir stammt.
Welche kollektive Erinnerung verdient Erlösung? Die Frage bleibt, ob kollektive Erinnerung als moralische Autorität agiert und Absolution erteilen kann. Ich würde behaupten, dass dies nicht der Fall ist, und wir deshalb die Vorstellung von der Erlösung durch Erinnerung kritisch überdenken müssen. Halbwachs soziologischen Ansatz zufolge entsteht und verändert sich das kollektive Gedächtnis nur durch die (nicht unbedingt bewusste) soziale Interaktion von Individuen, die eine Gruppe konstituieren. Es ist die Gruppe, die ihre moralischen Normen auf ihr kollektives Gedächtnis appliziert. Dieses kann seinerseits nicht als autonome Einheit mit eigenen moralischen Standards handeln. Das kollektive Gedächtnis kann nicht entscheiden, welche Erinnerungsgruppe Erlösung verdient. Es konstituiert sich – ob der Inhalt uns gefällt oder nicht.
Wissenschaftler zwischen Forschungs- und Geschichtspolitik
Ähnliches gilt für Forscher, die sich mit verflochtenen kollektiven Erinnerungen beschäftigen, besonders im Bereich der europäischen Geschichte. Es ist der oben erläuterten Themenwahl geschuldet, dass sie Erinnerungen und Gedenken erforschen, die auch heute noch äußerst kontrovers sind. Der Schwerpunkt auf das kollektiven Gedenken an Unterdrückung und Gewalt ist sicherlich zu einem großen Teil der Tatsache zu verdanken, dass sich Geschichte damit so gut dramatisieren lässt. Frei nach dem abgewandelten journalistischen Motto “only bad news is good news” scheint oft auch für transnationale Erinnerungsthemen zu gelten “only bad history is good history”. Die Mehrheit aller Nationen richten den Fokus ihrer an der Vergangenheit orientierten Identitätsbildung auf Unterdrückung und Gewalt, unter der sie als Nationen litten, aber aus der sie – so der übliche Plot – wie ein Phönix aus der Asche zu nationalem Stolz und Größe gestiegen sind. Es gibt unter den europäischen Nationen nur wenige Ausnahmen, etwa England, dessen nationale Identität sich in erster Linie aus der glorreichen Vergangenheit als British Empire speist, oder auch die ehemalige Sowjetunion, für die der “Große Vaterländische Krieg” ein zentraler historischer Mythos war. Aber fast alle nicht-imperialen Nationen stützen ihre nationale Identität auf Gräueltaten, welche sie erleiden mussten, wie z.B. der Holodomor in der Ukraine, die Befreiung von einer feindlichen Besatzung, wie z.B. Polen, das Überwinden von Diktatur und kommunistischer Herrschaft, wie etwa in Tschechien, oder die erlangte Unabhängigkeit von einer hegemonialen Macht wie etwa fast alle 1991 gegründeten post-jugoslawischen und post-sowjetischen Staaten. Einen möglichen Erklärungsansatz für diesen Fokus könnte Hayden Whites Konzept der “narrativen Modellierung” liefern. White hat in seiner Studie Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe (1973) überzeugend dargestellt, dass jegliche Darstellung der Geschichte narrativ ist und sich folglich in poetologischen Kategorien einteilen lässt. Auf das kollektive Gedächtnis bezogen hieße dies, dass in den meisten europäischen Ländern nationale Tragödien mit einem romanzenhaften Ende vermittelt werden. Bisher hat noch niemand die Frage gestellt, warum das Gedenken an Kriege und Gräueltaten so zentral für die Nationsbildung ist, warum neben Triumph, Scham, Schuld, Bedauern und Trauer die Schlüsselelemente nationaler kollektiver Erinnerung zu sein scheinen. Auch hier konnte dies nur kurz angerissen werden. Festzustellen bleibt dennoch, dass die bloße Dominanz von Kriegen und Gräueltaten in der (den) europäischen Geschichtspolitik(en) ihren prominenten Platz in der Forschungsagenda rechtfertigt.
Ein weiterer Grund, warum transnationale Erinnerungsstudien vor allem das Gedenken an Krieg und Gräueltaten zum Thema haben, mag sicher sein, dass die transnationalen Verflechtungen dieser Erinnerungen auf den ersten Blick offensichtlich sind. Normalerweise involviert das Gedenken an einen Krieg oder ein Massenverbrechen mindestens zwei Nationen, die an diesem Ereignis auch beteiligt waren. Seien es im Fall des Ersten und Zweiten Weltkrieges Deutschland und Frankreich oder im Fall des Massakers in Katyn Polen, Russland und Deutschland, wie es u.a. in dem 2009 erschienen Sammelband Verflochtene Erinnerungen. Polen und seine Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert gezeigt wurde. Problematisch ist hier teilweise, dass oft nicht klar definiert ist, um welche Art von transnationaler Verflechtung es sich handelt. Lässt sich die Charakterisierung der kollektiven Erinnerung als “verflochten” oder “transnational” darauf zurückführen, dass zwei oder mehr Nationen ein und desselben Erinnerungsorts von ihrer jeweiligen Perspektive gedenken, da sie von demselben Ereignis, demselben Prozess, derselben Person betroffen waren? Oder sind die kollektiven Gedächtnisse deshalb verflochten, weil sie das Ergebnis einer eventuell fortdauernden transnationalen Reziprozität während des Prozess des Erinnerns und Gedenkens sind? Oder trifft vielleicht beides zu?
Im Zusammenhang damit steht eine weitere wichtige Motivation, warum transnationale Erinnerungsstudien ihren Fokus auf traumainduzierte kollektive Erinnerung und die verflochtenen Gedächtnisse von (ehemals) feindlichen Nationen richten: Oft scheint es, als ob die Autoren dieser Studien Versöhnung oder im Falle Europas die Integration durch das Aufzeigen von verflochtenen Erinnerungen vorantreiben wollen, wie es Ma?gorzata Pakier und Bo Stråth in A European Memory? Contested Histories and Politics of Remembrance (2010) andeuten. Diese Studien beschäftigen sich mit dem konflikthaften Gedenken einer konflikthaften Vergangenheit, die oft als das zentrale Element einer nationalen Identität angesehen wird. Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus streben vor allem die zentral- und osteuropäischen Länder danach, ihre nationale Identität zu stärken. Eines der Hauptinstrumente für die Bildung einer starken und fest verwurzelten nationalen Identität scheint dabei die Schaffung einer nationalen kollektiven Erinnerung zu sein, die auf Trauma basiert und durch neu geschaffene Erinnerungstraditionen im Hobsbawmschen Sinne wie Gedenktage, öffentliche Reden, Ausstellungen und Denkmäler präsentiert wird. Gleichzeitig werden alle Faktoren konsequent ausgeschaltet, die diese neugeschaffenen Mythen stören oder in Frage stellen.
Zusammenfassend muss man dennoch sagen, dass die Gleichsetzung von Erinnerung und Gedächtnis mit Trauma nicht nur unser Verständnis von Erinnerung und Gedächtnis auf unzulässige Art und Weise einschränken, es zu sehr in den Begrifflichkeiten Schmerz, Leiden und Verlust fassen würde. Viel wichtiger noch: es würde menschliches Handeln verneinen.
Wie bereits oben erwähnt, ist das kollektive Gedächtnis eine sehr sensible und höchst politische Angelegenheit. Das beruht nicht nur auf der Heterogenität der jeweiligen Gesellschaft und ihrer internen Konflikte, sondern auch auf der Bedeutung internationaler Beziehungen für die inneren Angelegenheiten einer Nation. Der größte Teil der Relevanz eines auf Trauma basierenden kollektiven Gedächtnisses speist sich aus dem Antagonismus zwischen Opfer und Täter bzw. zwischen feindlichen Nationen. Alle Protagonisten sind in einen transnationalen kollektiven Erinnerungsprozess involviert, wobei jede Gruppe einen eigenen, oft unversöhnlichen Standpunkt einnimmt. Sie sind in einer untrennbaren Erinnerungsallianz gefangen. Historiker wie z.B. Konrad Jarausch und Thomas Lindenberger haben in dem Band Conflicted Memories. Europeanizing Contemporary Histories (2007) solche Konstellationen kontroverser nationaler kollektiver Erinnerungen als bedeutenden Hinderungsgrund für Versöhnung und Integration im europäischen Kontext ausgemacht, nicht zuletzt anlässlich der niederländischen und französischen Ablehnung einer europäischen Verfassung 2005.
Als Gegenbewegung zu den nationalen Bestrebungen eine “reine”, “essentielle” und unanfechtbare nationale Erinnerungstradition zu erfinden, ist es sinnvoll, dass Kulturwissenschaftler die Verflechtungen kollektiver Gedächtnisse auf transnationaler Basis untersuchen, also Vermittlungen, Vermittler und Vermittlungswege von Erinnerungsorten analysieren. Sie können in einer komplexen Analyse darlegen, welche transnationalen Interaktionen und Wechselwirkungen nationale Gedächtnisse prägen und letztendlich bedingen. Einerseits können solche Vergleichs- und Verflechtungsgeschichten Nationen, ihren Historikern bzw. Protagonisten der Erinnerungspolitik helfen, die Fallstricke einer Essentialisierung des Gedächtnisses zu vermeiden. Auf der anderen Seite untersuchen solche Studien, warum Nationen ein bestimmtes kollektives Gedächtnis und Erinnerungspraktiken entwickeln. Beide Seiten, sowohl die jeweiligen Nationen und die Rezipienten dieser Forschungen sollen verstehen lernen, dass umstrittene transnationale Erinnerungen, die oft auf einer konflikthaften Vergangenheit beruhen, immer noch – auch wenn sie keine Gemeinsamkeiten haben – zuallererst verflochten sind und sogar noch mehr, eine geteilte Erinnerung sind und zur Versöhnung führen können.
Es wäre unfair, diese Studien zur europäischen transnationalen kollektiven Erinnerung als Versuch zu interpretieren, Kohl und Mitterands Händchenhalten in Verdun 1984 oder Willy Brands Kniefall in Warschau 1970 auf wissenschaftlicher Basis zu wiederholen. Es wäre auch falsch, diese Studien in der Tradition der berüchtigten “Euro-history” zu sehen, die von Norman Davies in Europe. A History (1996) so benannt und als historiographische Arbeiten im Dienste der europäischen Integration verspottet wurde. All die oben genannten Sammelbände und Einzelstudien sind wichtig und oft auch von einem wissenschaftlichen Standpunkt bahnbrechend. Sie markieren deutlich die unglaubliche Dynamik, die der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung immer noch innewohnt. Die bloße Tatsache, dass Historiker auf die soziale und politische Relevanz ihrer Arbeiten verweisen, macht sie noch lange nicht zu einem Teil nationaler oder europäischer PR. Sie zeigt eher, dass sich die Historiker ihrer sozialen und politischen Verantwortung bewusst sind. Dennoch, Forscher der Erinnerungsforschung sollten immer über ihre eigene Position im Grenzland zwischen wissenschaftlicher Forschung und Geschichtspolitik reflektieren.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Gleichsetzung von kollektiver Erinnerung und Trauma in der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung problematisch ist, sowohl in Hinblick auf die Interaktion zwischen Forschung und Politik, als auch wegen der problematischen Verbindung eines individualpsychologischen und eines soziologischen Ansatzes bzw. von Freud und Halbwachs.
Eine Ausnahme, die die oben genannten Fallstricke der transnationalen Erinnerungsforschung ambitioniert umschifft, ist das dreibändige Werk Europäische Erinnerungsorte (2012) von Pim de Boer u.a. Zum einen heißt europäisch darin nicht, dass die verflochtenen Erinnerungen von zwei europäischen Nationen untersucht werden. Der Zugang ist wesentlich komplexer. Ein europäischer Erinnerungsort muss demnach mehrere Kriterien erfüllen. Zeitgenossen müssen nicht nur zur Zeit des Entstehens des Erinnerungsortes diesen als europäisch wahrgenommen haben. Er muss auch durch Kommunikation und Rezeption zu einem kulturellen Gemeingut in West- und Osteuropa geworden sein, d.h. sowohl die Faktoren Raum und Zeit werden berücksichtigt.
Es stellt sich dennoch die Frage, warum wir uns so schwer damit tun, transnationale kollektive Gedächtnisse und Erinnerungstraditionen zu untersuchen, die nicht auf Traumata basieren, die nicht präsentistisch sind und die nicht ein vorgebliches Schlüsselelement nationaler Identität darstellen, um zu verstehen, warum ein modernes kollektives Gedächtnis entstand und wie und warum es sich langfristig und aufgrund von räumlichen Transfers veränderte. Ich könnte mir vorstellen, dass Studien über das transnationale kollektive Gedächtnis eines untergegangenen, multinationalen Imperiums, wie etwa des Habsburger Reichs, das sicherlich traumatisch wie nicht traumatisch besetzte Erinnerungsorte umfasst, als Paradigma einer europäischen kollektiven Erinnerung dienen könnte. Der Vorteil, der in der Erforschung des Gedächtnisses eines multinationalen Staates liegen könnte, der bereits untergegangen ist, könnte schlichtweg die Tatsache sein, dass er nicht mehr existiert und deshalb in der Gegenwart keine politisch gesteuerte Schaffung eines kollektiven Gedächtnisses im Dienste der Nationsbildung bzw. Integration mehr notwendig ist – wie oben erwähnt oft ein impliziter Aspekt der Studien über ein europäisches Gedächtnis.
Jüdisches Kollektivgedächtnis als Perspektive der Erinnerungsforschung
Auch wenn es paradox klingen mag, so behaupte ich aus der Perspektive einer Historikerin, deren Forschungsgebiet vor allem die jüdische Geschichte der Neuzeit ist, dass Erinnerungsorte, die nicht auf Traumata basieren, ebenso wichtig sind für die moderne Identitätsbildung sozialer Gruppen und Nationen innerhalb eines transnationalen Kontextes wie die kollektive Erinnerung, die sich aus Traumata speist. Dies mag auf den ersten Blick verwundern, wo doch gerade die moderne jüdische Geschichte von der Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung des europäischen Judentums geprägt wurde, und Juden so zu einem essentiellen (Streit-)objekt des öffentlichen Umgangs mit kollektiver Erinnerung geworden sind.
Bereits 1928 hat sich der amerikanische Historiker Salo W. Baron in seinem bahnbrechenden Aufsatz Ghetto and Emancipation gegen eine “tränenreiche Konzeption der jüdischen Geschichte” gewandt. Auch im späten 20. Jahrhundert wandte sich die jüdische Geschichtsschreibung vermehrt und erfolgreich gegen eine ausschließliche Rezeption der Juden als Opfer und bloße Objekte einer wie auch immer gearteten “Judenpolitik” innerhalb einer “allgemeinen” Geschichtsschreibung. Dank dieser Bemühungen nehmen heute die Geisteswissenschaften Juden als aktive Akteure der Geschichte wahr und erforschen sie als solche. Warum sollte also die kulturwissenschaftliche Erinnerungsforschung eine Ausnahme bilden? Juden nicht nur als Erinnerte, sondern als Erinnernde der Moderne wahrzunehmen und zu erforschen, so wie es Josef Hayim Yerushalmi in Zakhor: Jewish History and Jewish Memory (1982) und Amos Funkenstein in Perceptions of Jewish History (1993) für Antike, Mittelalter und Frühe Neuzeit eindrucksvoll vorgemacht haben, ist eine Möglichkeit, neue Wege in der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung zu beschreiten. Zwei neuere Publikationen die im Rahmen der israelischen Geschichte in diese Richtung weisen sind Yael Zerubavels Buch Recovered Roots. Collective Memory and the Making of Israeli National Tradition (1995) und Andrea Livnats Studie über Theodor Herzl im kollektiven Gedächtnis Israels Der Prophet des Staates (2011). Juden wurden nicht erst durch die eigene Nationenbildung zu historischen Akteuren, sondern gestalteten auch in anderen Ländern von jeher ihr Leben und das ihrer Umwelt entscheidend mit. Es ist daher nur logisch, einen solchen Perspektivenwechsel auch innerhalb der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung zu durchdenken.
Vor 1945 waren die Juden eine sichtbare Minderheit in fast jedem europäischen Land, wobei ihr Hauptsiedlungsgebiet in Osteuropa lag. Obwohl meist von ihren Zeitgenossen nicht als solche akzeptiert, waren sie doch ein integraler Bestandteil der verschiedenen Gesellschaften seit dem Mittelalter und zählten oft zur politischen, sozialen und kulturellen Avantgarde der Länder, in denen sie lebten. Während des Zeitalters der Emanzipation und der Säkularisierung änderte sich das jüdische kollektive Gedächtnis dramatisch. Im vormodernen Judentum umfasste der Kalender Rituale, Bilder und Symbole, die regelmäßig wiederholt wurden und das kollektive Gedächtnis jahrhundertelang getragen und unterstützt hatten. Dieses kollektive Gedächtnis mit seinen Erinnerungsfiguren beruhte auf einem sakralen historischen Denken, das den Zeitabschnitt zwischen einer lang vergangenen Vergangenheit und der messianischen Erlösung am Ende der Zeit umfasste. Ereignisse der biblischen und nachbiblischen Geschichte wurden in religiösen Festen und Ritualen festgehalten. Zum Beispiel gedachte man an Pessach im Frühjahr der Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei und des Exodus ins Gelobte Land. Mit der Diversifizierung des modernen europäischen Judentums, die eine Konsequenz der Akkulturation, Integration und Verbürgerlichung weiter Teile des Judentums waren, verlor dieses vormoderne, sakralisierte kollektive Gedächtnis seine einigende Kraft. Es wurden neue, säkularisierte Formen einer kollektiven Erinnerung notwendig, um eine moderne jüdische Gruppenidentität zu entwickeln und zu erhalten. Neben der Schaffung einer modernen jüdischen Geschichtsschreibung, die auf wissenschaftlichen Methoden beruhte, war die Rekonfigurierung eines modernen jüdischen Gedächtnisses das zentrales Element einer auf die Vergangenheit rekurrierenden Modernisierung. Selbstverständlich fand dieser Prozess nicht gleichzeitig und nicht überall in Europa statt. Er begann früher im Westen als im Osten. Großstadtbewohner waren eher bereit, neue Pfade einzuschlagen als Kleinstadt- oder Landbewohner.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelten Juden eine moderne säkulare Form des kollektiven Gedenkens. Entweder “erfanden” sie neue Erinnerungsorte, wie etwa den Philosophen der europäischen Aufklärung, Moses Mendelssohn, oder sie beteiligten sich in großer Zahl an der Schaffung moderner lieux de mémoire, wie z.B. Schiller oder Goethe. Das säkulare Gedenken an Philosophen, Schriftsteller und andere Zivilbürger (militärische Helden gehörten bemerkenswerterweise selten zum Kreis neugeschaffener Idole) war etwas komplett Neues, nicht nur innerhalb der jüdischen Erinnerungskultur, sondern auch innerhalb der nichtjüdischen. Juden, die diese Gedenken initiierten, schufen nicht nur jüdische Referenzpunkte, sondern formten auch das moderne kollektive Gedächtnis und die Erinnerungskultur von Nichtjuden, die ebenfalls zu dieser Zeit am entstanden. Untrennbar mit der Erfindung von modernen Erinnerungsorten verbunden war das Entstehen von modernen Erinnerungspraktiken wie z.B. bürgerlicher Jubiläen, Reden, Ausstellungen und Denkmäler, die eine prominente Rolle innerhalb einer “bürgerlichen Religion des Nationalismus” spielten, wie George Mosse in seinem Buch Jüdische Intellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion und Nationalismus (1992) betonte.
Vereinfacht ausgedrückt begann dieser Prozess in Westeuropa und wurde im Zuge von kulturellen Transfers nach Osteuropa transportiert. Diese Transfers waren entweder von dem Bedürfnis westeuropäischer Juden motiviert, ihre angeblich armen, unzivilisierten und unterdrückten Glaubensgenossen an säkulare Bildung und Moderne heranzuführen, oder von lokalen osteuropäischen Intellektuellen, von Maskilim, den Anhängern der Haskalah, der jüdischen Aufklärung initiiert. Auch staatlichen Autoritäten, wie etwa die Verwaltung des Habsburger oder Russischen Reiches förderten solche Transfers, denn sie erhofften sich, dass moderne Vorstellungen von Kultur und Bildung helfen würden, die osteuropäischen Juden in das zu verwandeln, was sie unter nützlichen Untertanen verstanden. Wie zu erwarten war dieses westliche Konzept jüdischer kollektiver Erinnerung höchst umstritten in Osteuropa, wo die Mehrheit der Juden einen traditionellen Lebensstil pflegten. Dennoch, für traditionellen und für moderne Juden, für Chassiden und für Zionisten gleichermaßen wurde das Gedenken moderner Erinnerungsorte – auch wenn sie negative konnotiert waren – ein kulturelles Element, dessen sie sich bedienten, um ihre fundamentalen Prinzipien und Werte zu etablieren und in das kollektive Gedächtnis der folgenden Generationen dauerhaft einzuschreiben.
Diese Kulturtransfers von West nach Ost blieben nicht einseitig. Nach der Pogromwelle in Russland während der 1880er Jahre flüchteten viele osteuropäischen Juden nach Westeuropa und in die USA. Sie brachten die vorher aus Zentraleuropa transferierten und adaptierten Erinnerungsorte mit in die Aufnahmekulturen, wo sie mit bereits existierenden Gedenkkulturen konkurrierten und eine neue Bedeutung bekamen. Sie erfanden auch ihre eigenen Erinnerungsorte wie etwa die polnisch-litauische Adelsrepublik, Kaiser Franz Josef oder den “Gründungsvater” der modernen jiddischen und hebräischen Literatur, Mendele Mocher Sforim. Diese wurden ebenfalls in den Westen transferiert, wo sie mit Erinnerungsorten konkurrierten, die dort bereits existierten oder im Entstehen waren.
Das Entstehen eines modernen transnationalen jüdischen Gedächtnisses war eine fortdauernde Entwicklung. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das traditionelle jüdische Kollektivgedächtnis, das man als transnational spätestens seit dem Babylonischen Exil bezeichnen könnte, verschwand. Es wandelte sich vielmehr in vielerlei Hinsicht. Traditionelle Erinnerungsorte wie etwa Jerusalem bekamen in der Moderne eine neue, konkretere Relevanz nicht nur für Zionisten. Auch Erinnerungspraktiken wie Feiertage, Rituale, Teile der Liturgie und Gebete änderten ihre Bedeutung und ihren Charakter. Auf den ersten Blick mag man nur an die voranschreitende Säkularisierung denken, die die traditionelle Erinnerung und deren Formen einen Teil ihrer identitätsbildenden Relevanz beraubten. Genau das Gegenteil war der Fall. Überall in Europa war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Renaissance der jüdischen Kultur zu beobachten. Dies führte dazu, das traditionelle Erinnerungsorte und -praktiken eine neue Bedeutung erlangten und so paradoxerweise zum Erstarken einer nationalen jüdischen Identität beitrugen.
Kollektive Jüdische Erinnerung und die Shoa
Die Shoa, die Zerstörung des europäischen Judentums, veränderte das kollektive jüdische und nicht-jüdische kollektive Gedächtnis überall irreversibel. Ein neuer transnationaler Erinnerungskomplex rund um den lieu de mémoire Shoa und die damit verbundenen Erinnerungsorte wie z.B. Auschwitz, das Warschauer Ghetto oder die ungarische Partisanin Hannah Szenes, um nur einige zu nennen, entstand. Wie bereits oben erwähnt, haben Forscher begonnen, die transnationalen Verflechtungen eines kollektiven Gedenkens der Shoa zu untersuchen. Eine diachrone Analyse fehlt allerdings. Wir wissen nach wie vor nicht, in welcher Verbindung die kollektive Erinnerung an die Shoa mit bereits vorher existierenden Erinnerungstraditionen steht. Hat sie einfach frühere Schlüsselerinnerungsorte verdrängt und ersetzt? Veränderten sich bereits existierende Erinnerungsorte oder verloren sie gar ihre Relevanz für die Identität der Erinnerungsgruppen? Waren es traditionelle Erinnerungspraktiken, derer sich Juden und nicht-Juden bedienten, um der Shoa zu gedenken? Adaptierten sie diese und falls ja, wie? Oder kreierten sie neue kulturelle Praktiken, um der Bedeutung der Shoa als singulären Zivilisationsbruch gerecht zu werden? Dies ist ein Forschungsfeld, das bislang noch brach liegt.
Parallel zum kollektiven Gedenken an die Shoa entstand eine transnationale kollektive Erinnerung an die zerstörte Welt des europäischen, vor allem des osteuropäischen Judentums. Erinnerungsorte wie das Schtetl, Czernowitz oder die Klezmer-Musik entstanden. Interessanterweise sind die Hauptträger dieser Erinnerung Nichtjuden, die Kinder, Enkel und Urenkel derjenigen Menschen, die der realen jüdischen Existenz vor 1945 meist negativ gegenüber standen. Diese Erinnerungsorte wurden ins Leben gerufen und existieren heute virtuell oder als reale Projektionsfläche, vor allem in Osteuropa, wo kaum noch Juden leben. Sie bedienen offensichtlich ein Bedürfnis nach Wiedergutmachung, nostalgischer Reminiszenz und/oder finanziellen Profit, wie Ruth Ellen Gruber in ihrer Studie Virtually Jewish. Reinventing Jewish Culture in Europe (2002).
Insgesamt kann man festhalten, dass ein Fokus auf die moderne jüdische kollektive Erinnerung die Entwicklung einer longue durée-Perspektive erlaubt, die zeigt, dass das kollektive Gedächtnis, Erinnerungspraktiken und Erinnerungsorte nicht stabil sind, wie präsentistische Darstellungen suggerieren. Es ist vielmehr kontinuierlichen Rekonstruktionen, Dynamiken und Transformationen unterworfen. Diese Feststellung bezieht sich auf einen der Pioniere der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung Jan Assmann, der in Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. (1998) schreibt, dass das Gedächtnis “eine fortwährende Arbeit der rekonstruktiven Imagination” sei. Neben der Wandlung des kollektiven Gedächtnisses über einen längeren Zeitraum hinweg, unterstreicht der Schwerpunkt der jüdischen kollektiven Erinnerung die Dynamiken zwischen verschiedenen Räumen und Erinnerungstraditionen. Räumliche Transfers hatten einen mindestens ebenso großen Einfluss auf das kollektive Gedächtnis wie das Voranschreiten der Zeit. Anders als die oben erwähnten Zugänge zum transnationalen kollektiven Gedächtnis, welche dessen Existenz erst für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg konstatieren, zeigt der Fall des jüdischen Kollektivgedächtnis, dass es ein modernes transnationale kollektives Gedächtnis bereits lange davor gab. Deshalb ist die Transnationalisierung des kollektiven Gedächtnisses nicht notwendigerweise mit der postmodernen Globalisierung verbunden, sondern das Ergebnis langfristiger kultureller Transfers und Netzwerke. Das jüdische Kollektivgedächtnis mit seinen höchst mobilen Trägern und Ideen lenkt die Aufmerksamkeit auf diese multiplen Transfers und Zirkulationen zwischen verschiedenen Erinnerungsgruppen und über nationale und kulturelle Grenzen hinweg. Er zeigt, dass solche Wechselbeziehungen kollektive Erinnerungen, Erinnerungspraktiken und Erinnerungsorte änderten. Auf diese Art und Weise werden Juden, die bisher vor allem erinnertes Objekt im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung waren, zu Protagonisten eines modernen kollektiven Gedächtnisses. Ein genauerer Blick auf sie trägt das Potential in sich, eine tatsächlich historische Erinnerungsforschung zu betreiben, die weniger um normative Probleme kreist, sondern vielmehr konsequent den Wandel der kulturellen und sozialen Praxis des kollektiven Erinnerns in Raum und Zeit untersucht.
Martina Steer ist Fakultätsmitglied des Forschungszentrums “Borderland Societies. Past and Present” der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften und unterrichtet an der Diplomatischen Akademie in Wien. 2012 war sie Visiting Fellow am IWM (ÖAW APART-Programm), wo sie zu ihrem Projekt „Memory Transnational. The Moses Mendelssohn Jubilees, 1829-1986“ arbeitete.