Ein Fokus auf die Ukraine in der Erzählung des Kalten Krieges lässt weniger bekannte Dimensionen dieser Ära in den Vordergrund rücken und ermöglicht die Identifikation von Problemen, die immer noch Auswirkungen im Land haben.
Kate Younger: Welche Bedeutung hat der Kalte Krieg bzw. die Art und Weise, wie er zu Ende ging, für die aktuellen Ereignisse in der Ukraine?
Serhii Plokhy: Es gibt keinen klar definierbaren Beginn des Kalten Krieges, und auch Uneinigkeit darüber, wann er endete. An verschiedenen Orten endete er zu verschiedenen Zeiten. Im postsowjetischen Raum ging er nie wirklich zu Ende. Die beiden Supermächte waren sich in vielen Fragen einig. Eine davon war die Nuklearfrage, nämlich dass sich die Welt trotz des Endes des Kalten Krieges nicht wirklich ändern sollte. Sie sollte bipolar bleiben.
Das ist ein Element des Kalten Krieges, das für die aktuellen Entwicklungen in der Ukraine von entscheidender Bedeutung ist. Postsowjetische Länder, die Atomwaffen geerbt hatten, mussten auf diese verzichten. Dadurch ist ein Sicherheitsvakuum entstanden, das nie behoben wurde. In dieser Hinsicht endete der Kalte Krieg nicht wirklich, und die Probleme, die er geschaffen hat, haben noch heute Folgen.
Russland betrachtete die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten als eine Form der Aufrechterhaltung seiner Kontrolle über den postsowjetischen Raum. Die Konzentration aller Atomwaffen in den Händen Russlands war mit dieser Vision verbunden. Aber dann kam es zur Trennung. Die USA stimmten zu, dass die Atomwaffen von anderen Staaten abgezogen werden, aber nie, dass diese Staaten eine begrenzte Souveränität haben. Die Einigung auf die Frage der Atomwaffen und die Uneinigkeit über das Schicksal der Republiken machten den postsowjetischen Raum zu einem Gebiet der Unsicherheit.
Von den westlichen Grenzen der Sowjetunion bis zum Kaukasus und in geringerem Ausmaß in Zentralasien gab es zahlreiche Spannungen. Lediglich in den baltischen Staaten, die der NATO beigetreten waren, gab es kein Macht- oder Sicherheitsvakuum. Mir geht es nicht darum, die NATO als die Lösung zu präsentieren, sondern festzuhalten, was geschieht, wenn ein Teil des postsowjetischen Raums nicht sich selbst überlassen bleibt, um mit Russland fertig zu werden.
Younger: In Ihrer Arbeit setzen Sie die Ukraine ins Zentrum Ihrer Erzählung des Kalten Krieges. Wie verändert das unser Verständnis vom Kalten Krieg?
Plokhy: Wie vorteilhaft der Fokus auf die Ukraine für ein neues Verständnis des Kalten Krieges sein kann, stellte ich zunächst im Falle des Zusammenbruchs der Sowjetunion fest. Man kann diesen Zusammenbruch ohne die Ukraine nicht wirklich verstehen. Die Moskauer Sichtweise mit Gorbatschow und Jelzin im Mittelpunkt hat ihre Schwächen. Die Ukraine war das einzige postsowjetische Land, das ein Referendum über seine Unabhängigkeit abhalten konnte. Eine Woche nach dem Referendum wurde die Sowjetunion aufgelöst. Die Ukrainer/-innen haben also eine Entscheidung für die Mehrheit der ehemaligen Sowjetbürger/-innen getroffen.
Es gibt viele Gründe, warum die Ukraine so wichtig war. Einer der offensichtlichsten ist, dass sie die zweitgrößte sowjetische Volkswirtschaft war. Zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Sowjetunion wurde die wirtschaftliche Lebensfähigkeit des Reiches intensiv diskutiert. Das ist eine der Fragen, an der fast alle Imperien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zerbrachen. Russland war nicht bereit, die „Last des Imperiums“ unter den Bedingungen der Krise ohne die zweitgrößte Volkswirtschaft weiterzutragen.
Aber es gibt auch andere Gründe. Im Gespräch mit Präsident Bush führte Jelzin ein kulturelles Argument an, warum die Sowjetunion ohne die Ukraine nicht fortbestehen könnte. Russland war slawisch und orthodox in einer Union mit vorwiegend muslimischen und zentralasiatischen Republiken. Es ging um die slawische Identität, um die Frage, ob Russ:innen und Ukrainer:innen ein und dasselbe Volk sind. Die Frage hat also eine wirtschaftliche und eine ethnisch-kulturelle Komponente.
Was mir zudem besonders auffiel, war die Bedeutung der ukrainischen kommunistischen Elite in der sowjetischen Nachkriegszeit. Schon in den 1930er Jahren entstand in der Sowjetunion ein Führungssystem – das bis heute in Russland fortbesteht –, in dem Eliten aus einer bestimmten Region die Kontrolle über den Staat übernehmen. In den 1920er und 1930er Jahren waren es Stalins Leute aus dem Kaukasus. Seit den 1960ern und bis in die 1980er hinein waren es Leute aus der Ukraine. Die Ablösung von Chruschtschow hat zu keiner Wachablösung in Moskau geführt. Dieser Aufstieg der ukrainischen Elite ist ein Phänomen des Kalten Krieges.
In der Zeit der Kubakrise wurde jede einzelne an Kuba gelieferte ballistische Rakete in der Ukraine hergestellt. Zufällig standen auch die Leute, die für die Raketenstreitkräfte verantwortlich waren, Chruschtschow und seiner ukrainischen Mafia persönlich sehr nahe.
Nicht zuletzt ist die Verwicklung von Ukrainer/-innen in die Dissidentenbewegung zu nennen. Bis Mitte der 1970er Jahre waren die Ukrainer/-innen die größte ethnische Gruppe im Gulag. Der ukrainische Widerstand gegen das sowjetische Regime in der Westukraine stellt den Beginn des Kalten Krieges dar. Die ersten Leute, die von der CIA oder anderen ausländischen Geheimdiensten in die Sowjetunion abgesetzt wurden, sind Ukrainer. Sie gehen dorthin in dem Glauben, dass es einen starken Widerstand gibt. Auch dieser Widerstand gegen das sowjetische Regime, zunächst in Form des bewaffneten Widerstands und dann weiter mit dem Gulag und der Dissidentenbewegung, ist ein sehr wichtiger Teil der Geschichte des Kalten Krieges.
Die Ukraine eröffnet zudem ein anderes Verständnis der Dissidentenbewegung. Blickt man auf Moskau, lassen sich die Dissidenten/-innen ganz klar in zwei Lager einteilen: das eine, vertreten durch Solschenizyn, besteht aus den russischen Nationalisten/-innen; das andere aus den Liberalen, vertreten durch Andrej Sacharow. In der Ukraine gibt es diese Spaltung nicht. Die Helsinki-Akte und die Ideologie und Rhetorik der Menschenrechte haben das multiethnische Amalgam der ukrainischen Dissidentenbewegung hervorgebracht, das mit einem sehr interessanten Phänomen einhergeht: den liberalen Nationalismus. Dieses Phänomen gibt es in Russland erst seit 1991.
Younger: Der Kalte Krieg ist auch das nukleare Zeitalter. Sieht man, wie Putin heute die Atomwaffenkarte spielt, fällt es einem schwer nicht an die Kubakrise zu denken. Wie denken Sie als Atomkriegsexperte darüber?
Plokhy: Die Parallelen zwischen der aktuellen Situation und der Kubakrise wurden schon vor dem Krieg gezogen. Das Argument war, dass, wenn man in Betracht zieht, wie die Vereinigten Staaten auf das Eindringen der Sowjetunion in Kuba reagiert hatten, man mehr Verständnis dafür aufbringen sollte, wie Putin auf angebliche spätere westliche Übergriffe in der Ukraine reagiert.
Meine Antwort ist, dass es bei der Kubakrise um Raketen ging. Sobald NATO-Raketen im Territorium der Ukraine stationiert werden, würde ich diese Parallele für wirklich produktiv halten. Bevor das passiert, fällt es mir schwer, Parallelen und Lehren daraus zu ziehen.
Es bestand die reale Gefahr, dass der Krieg in der Ukraine in einen Atomkrieg umschlägt. Diese Gefahr besteht immer noch und ist mit der rücksichtslosen russischen Übernahme von Atomanlagen verbunden: Krieg auf dem Gelände der Atomanlagen führen; Gräben in den am stärksten verseuchten Gebieten ausheben; wesentliche Elemente radioaktiver Kontamination stehlen und wegschaffen. Im Kernkraftwerk von Tschernobyl wurde der Strom tagelang abgeschaltet, was die Arbeit der Pumpen gefährdete, die die Brennelemente kühlten, und die noch aus dem Jahr 2000 stammten, als der letzte Reaktor abgeschaltet wurde. Das war, ist und bleibt die eigentliche nukleare Gefahr in diesem Krieg.
Die Aufmerksamkeit lag jedoch auf Putins Drohung. Die anfängliche Panik wich aber der Erkenntnis, dass man nicht die ganze Welt bedrohen kann, wenn man kein Monopol auf Atomwaffen hat. Das war eine der Lehren aus der Kuba-Krise, die wir jetzt wieder ziehen. Was wir zurzeit erleben ist ein Umdenken in Bezug auf Atomwaffen und eine Rückkehr zum Denken des Kalten Krieges: es kann Vorteile haben, wenn Drohungen, Atomwaffen einzusetzen, mit Gegendrohungen beantwortet werden.
Was fehlt, ist die Einsicht – die wir jedoch wiedergewinnen können, da sie einst da war –, ein wirkliches Verständnis für die neue Bedrohung, die von den Atomkraftwerken ausgeht, und für den Krieg, der in einer Welt mit mehr als 400 Atomreaktoren geführt wird. Diese Art von Krieg war nicht Teil der Erfahrungen des Kalten Krieges. Das ist ein neues Element, worüber viel nachgedacht werden muss.
Serhii Plokhy ist Professor für ukrainische Geschichte und Direktor des Ukrainischen Forschungsinstituts an der Harvard University. 2022 war er Andrei Sheptyts’kyi Senior Fellow am IWM.