Der Balkan: Mission Possible

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Im Oktober 2024 hat die Historikerin Maria Todorova in Wien die diesjährigen IWM-Vorlesungen gehalten. Im Frühjahr erscheint die entsprechende Publikation unter dem Titel Der Balkan: Mission Possible.

"Der Balkan: Mission Possible" Book cover

„Nein, das ist kein Irrtum. So intellektuell obszön es auch klingen mag: Die Titel der IWM-Vorlesungen, die vom Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien anlässlich des 100. Geburtstags von Hans-Georg Gadamer ins Leben gerufen wurden, und auf denen dieses Buch basiert, sind inspiriert von der Filmreihe Mission Impossible mit Tom Cruise. Und auch wenn ich in meinem Alter die physischen Stunts von Tom Cruise nicht mehr nachahmen kann, kann allein schon die Vorstellung des verwinkelten gebirgigen Terrains des Balkans (und seiner noch vertrackteren Geschichte) Schwindelgefühle auslösen. Dennoch gibt es nichts, was damit vergleichbar wäre, von einem Berggipfel im Balkangebirge hinunterzuschauen, und ich habe meine eigenen Stunts, die das Gelingen der Mission ermöglichen.“ Mit diesen Worten erläutert Maria Todorova den auf den ersten Blick überraschenden Titel ihres neuen Buches Der Balkan: Mission Possible, das im Frühjahr 2025 noch vor der englischen Fassung im Wiener Mandelbaum Verlag erscheinen wird. Das vom IWM herausgegebene Buch, kann als Begleitband zu Todorovas maßgeblichem Werk Die Erfindung des Balkans (1997) gelesen werden, das vor dreißig Jahren erschien und die Balkanforschung nachhaltig geprägt hat.

Vor dem Hintergrund der gewaltsamen Desintegration Jugoslawiens und der Bemühungen jener Zeit, den Unterschied des Balkans von West- und Mitteleuropa herauszustellen, lenkte Die Erfindung des Balkans die Aufmerksamkeit vom Balkan auf die Balkan-Expertise, von den Prozessen in der Region auf deren Beschreibung, und stellte die These auf, dass Erklärungsansätze für Phänomene auf dem Balkan auf einem stabilen System historisch gewachsener Stereotype beruhen. Bezeichnend für diesen Diskurs ist, dass die Inferiorität und Devianz der Region von der westlichen Norm nicht in Kategorien radikaler Alterität (wie im Falle des Orientalismus), sondern in Kategorien der Ambiguität formuliert wird. Der Balkan sei nicht das Andere, sondern das Alter-Ego Europas; nicht das Fremde, sondern die Schattenseite des Eigenen; eine Art „schwarzes Schaf“ der (besten) Familie (auf Erden).

Die Erfindung des Balkans war die wichtigste einer Reihe von akademischen Interventionen jener Zeit, die darauf abzielten, die Balkanforschung zu „queeren“ (Todorova). Sie erschütterte diese wie ein Erdbeben. Die Rezeption des Buches setzte kreative Kräfte frei, inspirierte innovative Forschung und machte die Balkanforschung, die bis dahin ein von der Geschichtswissenschaft dominiertes Nischendasein fristete, für andere Disziplinen anschlussfähig. Für viele Menschen aus dem Balkan, die in akademischen Einrichtungen dem Balkanismus-Diskurs ausgesetzt waren, wirkte die Publikation wie ein Befreiungsschlag. Es war, als hätte der Balkan seine Stimme erhoben.

Seitdem gab es zahlreiche relevante Entwicklungen, nicht nur in der Forschung. Vor allem wurde im Zuge des EU-Erweiterungsprozesses der Großteil des Balkans „normalisiert“. Die Vorurteile sind zwar nicht verschwunden,  haben aber ihre politische Funktion verloren und stehen  daher auch nicht mehr im Zentrum einer öffentlichen Debatte.. Es ist Ruhe eingekehrt – ein günstiger Moment, um Bilanz zu ziehen.

Das Buch besteht aus drei Teilen, deren Betitelung sich – wie der Titel des Buches selbst– an die einzelnen Actionfilme aus der Reihe Mission Impossible anlehnen. Der erste Teil zeichnet die Anfänge und den Niedergang des Balkans sowie den Fallout dieser Entwicklung nach. Todorova versteht den Balkan als vergängliches Gebilde, und spürt seiner Geschichte nach, von seinem Aufkommen über sein Ende als geopolitisches Konstrukt bis hin zu seinem Vermächtnis als Signifikant (denken Sie an die Metapher der Balkanisierung). Im zweiten Teil des Buches (Dead Reckoning) geht die Autorin auf die verschiedenen Ansätze zur Erfassung des Balkans ein. Sie diskutiert die Institutionalisierung der Balkanstudien und die vorherrschenden Trends der Balkanforschung und wirft die Frage auf, ob der Balkan eine eigene Epistemologie braucht. Im dritten Teil (Rogue Nation) wird ein drastischer Perspektivwechsel vollzogen. Anhand von Kurzbiographien dreier, der Öffentlichkeit nicht sehr bekannter Personen aus Bulgarien, werden die Macht und die Fallstricke des „Framing“ aufgezeigt. Typisch für Todorova stehen auch in diesem Buch methodische und epistemologische Fragen im Mittelpunkt, die die Anschlussfähigkeit ihrer Arbeit an andere Disziplinen gewährleisten. Immer wieder greift sie in ihren Ausführungen auf Gadamer und dessen Verteidigung der Geisteswissenschaften sowie seiner Auffassung von Hermeneutik zurück.

Das Buch bietet einen Überblick und eine Diskussion der Balkanforschung der letzten drei Jahrzehnte, wenn auch nicht allen Trends die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt werden kann. Auf zwei Paradigmen geht Todorova ausführlich ein. Das erste ist mit der Kategorie der „Race“ verbunden, der sie in ihrer Forschungsarbeit keine große Aufmerksamkeit geschenkt hat. Obwohl sie nach wie vor der Überzeugung ist, dass „Race“ für die Herausbildung des Balkanismus-Diskurses nicht ausschlaggebend war, kann sie insbesondere dem Modell Loïc Wacquants, das den historischen und wandelbaren Gebrauch des Begriffs zu erklären vermag, viel abgewinnen.

Noch eingehender geht sie auf die Paradigmen des Imperiums und der Kolonialität (u.a. Postkolonialität, Dekolonialität) ein, die heute die Forschung beherrschen. Sie kritisiert die inflationäre Verwendung der Kategorie der Kolonialität und fordert zeit- und ortsgebundene Spezifität. Letztere sei „nicht nur wichtig, um kognitive Deformationen zu vermeiden, sondern auch aus ethischen Gründen. Das emanzipatorische Mäntelchen des Postkolonialismus dient allzu oft als Deckmantel für das ewige Lamento über die Opferrolle und öffnet ungewollt die Tür zum Nationalismus.“

Todorova plädiert für das Auseinanderhalten der Kategorien des Imperialen und Kolonialen. Sie widerspricht Timothy Snyder, der in den Revolutionen auf dem Balkan gegen die osmanische Herrschaft den Beginn des dekolonialen Moments sieht. „Das Argument, der Balkan sei Vorreiter der Dekolonialisierung gewesen, beruhte auf der Prämisse, dass das Osmanische Reich kolonial war. Da es auf dem Balkan im 19. Jahrhundert weder eine Kolonie noch einen Kolonisator gab, ist die Verwendung des Begriffs ‚Dekolonisierung‘ aus meiner Sicht grundlos. Nicht jede Form von Unterordnung, Unterwerfung und Machthegemonie lässt sich als ‚kolonial‘ bezeichnen. Nicht jeder Widerstand ist Dekolonisierung.“ Während Snyder den Nationalbewegungen auf dem Balkan eine Vorbildfunktion für spätere Nationalismen zuschreibt (und somit von den Defiziten mimetischer Nachzügler befreit) und ihnen eine wesentlich größere Bedeutung für die Entwicklung des Nationalismus beimisst als dem französischen Modell, sieht Todorova darin die Rückkehr der längst überwundenen Unterscheidung zwischen westlichem und östlichem Nationalismus durch die Hintertür. Dies verweise zudem auf die Defizite des Letzteren, da Snyder zufolge das Modell des Balkans ein erfolgreiches Modell der Des-, nicht aber der Reintegration war. Ungeachtet ihrer grundsätzlichen Einwände hat Todorova Verständnis für die Übernahme des Vokabulars der Dekolonialität durch eine neue Generation von Wissenschaftler:innen, die jüngere Erfahrungen Osteuropas und des Balkans analysieren, und wertet dies als einen Versuch, die Region in einen universalisierenden Diskurs einzubeziehen.

Obwohl Todorova sich der Vorteile und Chancen universalisierender Diskurse bewusst ist, ist sie der Überzeugung, dass es zeit- und raumspezifischer Studien bedarf, um etablierte Großnarrative zu erschüttern. Sie ist jedoch nicht der Ansicht, dass die Forschung die Spannung zwischen beiden heuristischen Ansätzen lösen kann, da es die politischen Umstände sind, die den Nährboden der Dichotomie bilden.

Jedenfalls lässt sich der Maßstab des Partikularen und insbesondere des Individuums, der im dritten Teil des Buches zur Geltung kommt, als bewusste methodische Entscheidung der Autorin gegen pauschale Verallgemeinerungen verstehen, die im Einklang mit dem „Leitmotiv“ ihrer Forschung steht, das Verschwinden des Liminalen durch generalisierende Diskurse in Frage zu stellen. Der Maßstab des Partikularen richtet das Licht auf das, was untergeht, wenn Generalisierungen die chaotische Wirklichkeit „ordnen“. Auf den hartnäckigen positivistischen Einwand, ob das Partikulare überhaupt Aufmerksamkeit verdient, ist mit Goethe zu erwidern, „eine einzelne Handlung oder Begebenheit ist interessant, nicht weil sie erklärbar oder wahrscheinlich, sondern weil sie wahr ist.“


Maria Todorova
Der Balkan: Mission Possible
Wien: Mandelbaum Verlag, März 2025, ca. 350 Seiten, übers. aus dem Amerikanischen von Andreas Wirthensohn, ISBN 978-3-99136-092-6

Evangelos Karagiannis ist Chefredakteur der IWMpost