Meine Großmutter, das Judentum und die Orthodoxie

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Die Sowjetunion gehörte zu jenen seltenen Orten, an welchen orthodox getaufte Juden keine einzige ihrer Identitäten verloren – sie fühlten sich sowohl als Juden als auch als Christen. Am deutlichsten kam dies zur Zeit der sogenannten Stagnation zum Vorschein, als die Taufe zu einem Trend unter der jüdischen Intelligenz wurde. Will man dieses Phänomen verstehen, muss man wenigstens eine Generation zurückschauen.

Wenn ich die Augen schließe und versuche, mir meine Großmutter Ruscha vorzustellen, denke ich zunächst an die erloschene Papirossa „Belomorkanal“ (das stärkste, geruchsintensivste und billigste sowjetische Tabakerzeugnis, benannt nach dem berühmten stalinistischen Bauvorhaben, welches Ζehntausende von Häftlingen das Leben kostete), dann an die sie haltenden dunklen Finger mit kurzen Fingernägeln; den über einem Buch geneigten Kopf mit einer großen und schönen, wenn auch hakenförmigen Nase; das karierte Taschentuch, welches aus der Tasche eines flauschigen (des sogenannten schlechtesten) Morgenmantels hervorsteht. Der sogenannte beste wurde für den „Krankenhausfall“ aufgehoben.

„Solltest Du nämlich plötzlich und unvorbereitet im Krankenhaus landen, trägst du nur noch Krankenhauskleidung, etwas Graues, mit Stempeln“, sagte sie und fügte hinzu: „wie im Gefängnis“. Daher wurde alles „Anständige“, wie sie es bezeichnete – Unterwäsche, Strümpfe sowie jener Morgenmantel – beiseitegelegt und auf einem separaten, unanttastbaren Stapel aufbewahrt. Gelegentlich überprüfte sie ihn und schichtete etwas um.

Als Großmutter einen Herzinfarkt erlitt und eiligst von einem Krankenwagen abtransportiert wurde, hat man es nicht geschafft, ihr etwas „Anständiges“ anzuziehen.

Am nächsten Tag stand ich vor der Tür der Intensivstation. Heraus kam ein Krankenpfleger von schier ungeheurer, furchteinflößender Größe. Ich reichte ihm die Tüte mit den „anständigen“ Sachen sowie einen gefalteten Zwanzig-Dollar-Schein, was zu Zeiten der Perestrojka ein durchschnittliches Schmiergeld war. „Für Narinskaya?“, fragte er, „eine kleine jüdische alte Dame wie diese?“ Ich nickte. Unter dem kurzen Ärmel seiner Uniform war auf dem riesigen Bizeps eine leicht verwischte tätowierte Fledermaus zu sehen. Ich wusste, dass Tätowierungen dieser Art von denen gemacht wurden, die in Afghanistan gekämpft hatten.

Großmutter starb noch in derselben Nacht. Im Sarg trug sie ein unbekanntes Hemd mit Perlmuttknöpfen. Im Gegensatz zu einem Krankenhausaufenthalt hatte sie sich nie auf ihre eigene Beerdigung vorbereitet. In dem besten Morgenmantel habe ich sie also nicht gesehen – nur in dem schlechtesten. Wenn sich Großmutter vorbeugte, fiel aus dem offenen Kragen dieses alten Mantels ein kleines, an einer Kette hängendes eisernes Kreuz.

Dieses Kreuz hat Ruscha überhaupt nicht davon abgehalten, immer wieder ihr Judentum zu bekunden. Auf fast alle wichtigen Nachrichten reagierte sie mit der Frage: „Und welche Folgen wird das für die Juden haben?“ Genau diese Frage stellte sie mir auch, als Gorbatschow Glasnost einleitete. Befremdet von meiner, wie sie meinte, respektlosen Haltung gegenüber ihren Wurzeln, sagte sie, die Lippen aufeinanderpressend und die erloschene Papirossa schwingend: „Du bist keine Jüdin, nein, du bist die Parodie einer Jüdin.“

Die Geschichte ihrer Taufe gab sie folgendermaßen wieder.

Es geschah, als sie zehn Jahre alt war (also 1911) in Odessa, wo sie mit ihrer Mutter und der älteren Schwester lebte. Die Schwester arbeitete in einem Modegeschäft, arrangierte Schuhe und Hüte im Schaufenster. Eines Tages verliebte sich – auf den ersten, durch das Schaufenster gerichteten Blick – ein reicher und „vollkommen russischer“ (ich zitiere Großmutter) Mann in ihre Schwester. Er besaß eine Fabrik und Villa am Schwarzen Meer.

Die Schwester zog in die Villa, nahm Ruscha mit, und dann, als sie eigene Töchter bekommen hatte und es Zeit für ihre Taufe war, wurde gleichzeitig ihre minderjährige Tante orthodox getauft. Im Zuge der Taufe wurde ihr biblischer Name Rachel durch Raisa ersetzt, einen Namen aus den orthodoxen Heiligenbüchern.

Den Namen Raisa hasste sie leidenschaftlich und benutzte ihn nicht einmal während der spätstalinistischen Judenverfolgungen, als aus einem Gefühl der Selbsterhaltung heraus Baruchs zu Borissen und Sarahs zu Sophien wurden. Ihr kleines Kreuz hat sie allerdings zu keinem Zeitpunkt abgelegt – nicht einmal dann, als Religion als „Opium des Volkes“ bezeichnet wurde, orthodoxe Kirchen zerstört und Priester in Lager gesteckt wurden.

Sobald ich alt genug war, um eine skeptische Haltung gegenüber den Dingen einzunehmen, begann ich, diese Version von Großmutters Taufe sowie die ganze Liebesgeschichte zwischen einem russischen Kapitalisten und einer jüdischen Angestellten anzuzweifeln. Ich dachte, sie wollte einfach nicht eingestehen, dass die Taufe ein wohlüberlegter Schritt in Richtung eines komfortableren Lebens gewesen war, hob doch die Taufe im vorrevolutionären Russland erniedrigende Einschränkungen für Juden auf, z.B. das Verbot, in Großstädten zu leben und an Universitäten zu studieren. Und auch, dass die Geschichte der Liebe, der Villa, aber auch der darauffolgenden Abreise der Schwester und ihrer Familie nach Europa auf einem Schiff der Entente eine Phantasmagorie war, inspiriert von einer Vorliebe für französische Romane.

35 Jahre nach Ruschas Tod, nach dem Tod ihrer Tochter, also meiner Mutter, und praktisch nach dem Tod aller, die mich als Kind umgaben, stieß ich in den Kisten meines Familienarchivs auf einen auf Französisch verfassten Brief.

Er war kurz nach Stalins Tod geschrieben worden. Es war eine von Ruschas Nichten, die aus Paris schrieb und indirekt all das bestätigte, woran ich nicht geglaubt hatte: den Fabriksbesitzer, das Modegeschäft, das Leben in einer Villa, die Evakuierung mit der Entente.

Es stand außer Frage, dass es der erste Brief nach einer sehr langen Pause war. Den Brief machen größtenteils Erinnerungen über das Leben in Odessa aus: Spaziergänge mit Freundinnen an der Meerespromenade, ein Treffen mit dem berühmt-berüchtigten Odessaer Gauner Mischka Japontschik.

Vermutlich hat Ruscha diesen Brief unbeantwortet gelassen. Wie viele Menschen in der Sowjetunion war sie sehr vorsichtig mit Briefen ins Ausland und mit Briefen allgemein. Selbst zur Zeit der mehr oder weniger entspannten Stagnation steckte sie ein Haar in Briefumschläge. Falls der Empfänger das Haar nicht vorfand, war der Brief geöffnet und auf staatsfeindliche Inhalte überprüft worden. Sie davon zu überzeugen, dass das Haar einfach herausgefallen sein könnte, war unmöglich.

Ich habe Ruscha oft in ihrer winzigen Wohnung in Moskowskije Wysielki besucht. Sie lebte dort mit ihrem älteren Sohn, meinem Onkel Julja.

Julja war ein alter Junggeselle. Zuhause ging er in einem gestreiften Pyjama herum, hörte Schallplatten mit Aufnahmen italienischer Opern und sang laut dazu. Einst war er ein vielversprechender Physiker gewesen, brachte es aber aus irgendeinem Grund nur zu einem Schullehrer. Wenn er gerade nicht unterrichtete oder sich Arien anhörte, schrieb er etwas in kleine Hefte mit weichen Umschlägen. Nun sind diese Heftchen bei mir. In ihnen wird auf vielen Seiten mit physikalischen Gleichungen, langen Berechnungen und mit Bleistift gezeichneten Schemen die Existenz Gottes wissenschaftlich belegt.

Ich erinnere mich (es war in den frühen 1980er-Jahren), wie Onkel Julja zum ersten Mal davon sprach, nach Israel auswandern zu wollen. Damals fuhren viele weg; im Freundeskreis meiner Eltern waren mehr ausgereist als geblieben. Juljas Vorhaben wurde in der Familie jedoch sehr unruhig diskutiert.

Eines Tages verschwand er. Spurlos. Er wurde zur Fahndung ausgeschrieben, und Mutter fuhr einige Male zur Polizei, um Leichen zu identifizieren. Und jedes Mal war er es nicht. Schließlich wurde er als vermisst gemeldet, und Ruscha zog bei uns ein.

Später erfuhr ich, dass er sicher war, nicht nach Israel ausreisen zu dürfen, da er in seiner Zeit als Physiker an einem Projekt mit einer Bombe beteiligt war. Leute, die Verbindungen zu geheimen Projekten hatten, wurden nicht aus der Sowjetunion herausgelassen. Einmal sagte er zu Großmutter und Mutter, er habe endlich jemanden gefunden, der bereit wäre, ihn nach Israel zu bringen, illegal natürlich, mit gefälschten Papieren. Man müsse nur bezahlen, die benötigte Summe habe er bereits aufgetrieben.

Manchmal denke ich, dass es vielleicht nicht das ist, wonach es aussieht: Er wurde nicht einfach so ermordet und seines Geldes beraubt, sondern tatsächlich nach Israel gebracht. Und er lebte dort jenes neue lange Leben, welches er sich erträumt hatte, und schrieb zahlreiche weitere Heftchen voll. Selten denke ich aber so.

Ich habe mit Ruscha nie darüber gesprochen, was mit ihm geschehen ist.

Jetzt ist mir bewusst, dass ich schrecklich wenig – nein, viel mehr furchtbar schlecht und oberflächlich – mit ihr gesprochen habe.

Ich habe sie, zum Beispiel, niemals gefragt, wie sich ihr Kreuz mit dem stets bekundeten Judentum vereinen lässt.

Wollte sie ihre Vergangenheit, möge sie von außen noch so widersprüchlich wirken, nicht verleugnen?

Kann es sein, dass sie weder das eine noch das andere abschwören wollte, weil es bedeuten würde, die sowjetische Macht zu akzeptieren? Wenn sie es schon nicht wagte, sich ihr zu widersetzen, könnte sie sich ihr wenigstens nicht unterwerfen?

Hat sie etwa darin keinen Konflikt gesehen?

Jetzt kann ich mir eine beliebige Antwort aussuchen.

Oder all diese Antworten.


Anna Narinskaya ist Journalistin, Dokumentarfilmerin und Ausstellungskuratorin. 2024 war sie Visiting Fellow am IWM.