Europa kann sich seine Vergangenheit nicht aussuchen 

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„Mein Geschichtsunterricht hat nach dem Zweiten Weltkrieg aufgehört,“ ist ein Satz, den man oft hört, wenn man Leute fragt, welche Rolle die jüngere Geschichte bei ihnen im Schulunterricht gespielt hat. Allerdings ist von 1945 bis heute noch viel passiert, was den EuropäerInnen immer noch in den Knochen steckt und ihre politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen beeinflusst. 

Hunderttausende in Österreich lebende Menschen haben einen Bezug zu den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens. Viele von ihnen kamen als Kriegsflüchtlinge oder haben Angehörige, die als solche nach Österreich kamen. Allerdings nimmt der Krieg, vor dem diese Menschen geflohen sind, weder im europäischen Geschichtsbewusstsein noch im österreichischen Geschichtsunterricht einen bedeutenden Stellenwert ein. Häufig heißt es in offiziellen Mitteilungen der Europäischen Union und ihrer Mitglieder oder auch in Qualitätszeitungen, die EU hätte Europa „70 Jahre Frieden“ beschert. Das ist nicht ganz richtig, liegt doch Jugoslawien in Europa – ebenso wie die Ukraine, die heute nicht in Frieden leben kann. Dabei geht es nicht um eine Spitzfindigkeit, sondern um ein Gefälle zwischen Westeuropa, also dem Europa, dessen Kriegserfahrungen im Geschichtsbewusstsein heute zählen, und einem Teil Osteuropas, dessen Geschichte ausgeklammert wird. Der Westbalkan und auch die Ukraine sind für die EU nur dann europäische Staaten, wenn es für sie bequem ist. Die  

Jugoslawienkriege werden noch lange nachwirken  

Neben der Tatsache, dass sie Beitrittsverhandlungen mit Nachfolgestaaten Ex-Jugoslawiens führt, die prägende und traumatische Erfahrungen im Zuge des Konflikts der 1990er Jahre gemacht haben, hat die Europäische Union auch weitere Gründe, sich um die Aufarbeitung dieses finsteren Teils europäischer Geschichte besser zu kümmern: Nicht wenige EU-Mitgliedstaaten spielten eine bedeutende Rolle im Jugoslawienkonflikt. Diese hat sich wiederum nicht nur auf Hilfsmaßnahmen – wie die während des Bosnienkrieges in Österreich gegründete Aktion „Nachbar in Not“ – oder die Aufnahme von vielen Flüchtlingen beschränkt. Der Konflikt spielte sich geradezu in Sichtweite europäischer Mächte ab und wurde nicht verhindert. Rechtzeitig verfügbare Informationen über einen drohenden Genozid in Srebrenica führten nicht zur Verhinderung des Massakers. Niederländische Soldaten, die die „Schutzzone“ Srebrenica bewachen sollten, konnten mehr als 8.000 Leben von bosnischen Muslimen nicht retten. In einem anderen Fall waren es dänische Blauhelme, die im August 

1995 dabei zusahen, wie acht ältere und teilweise behinderte Menschen in einer Schule hingerichtet wurden (s. dazu den Beitrag von Jerko Bakotin auf S. 16). 1999 bombardierte die NATO Jugoslawien; etwa 500 serbische und kosovarische ZivilistInnen kamen dabei ums Leben. Neben den USA stellten auch mehrere europäische Staaten, nämlich Großbritannien, Belgien, Dänemark, Italien, die Niederlande und Spanien Kontingente dafür bereit. Unabhängig davon, ob man diese Einsätze für gerechtfertigt hält oder nicht, hat die Bombardierung die Wahrnehmung des Westens durch viele Serbinnen und Serben entscheidend geprägt. Es ist also unleugbar, dass die Jugoslawienkriege nicht nur die Geschichte Jugoslawiens und seiner Nachfolgestaaten sind. Sie sind europäische Geschichte.  

Die EU blendet Teile ihrer Geschichte weitgehend aus  

Viele Faktoren, die die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union damals lähmten, sind bis heute nicht behoben. Würde diese heute einen europäischen militärischen Einsatz durchführen wollen, um tausende Leben irgendwo in Europa zu schützen, so müsste das von den Mitgliedstaaten immer noch einstimmig beschlossen werden. Die jüngere Erfahrung mit der Entscheidungs- und Einigungsfähigkeit in den entsprechenden Gremien bei strittigen Fragen zeigt: Das Verfahren würde womöglich zu lange dauern, um den Menschen rechtzeitig zur Hilfe zu kommen. Srebrenica offenbart, dass das „Niemals wieder“, zu dem sich Europa nach dem Zweiten Weltkrieg bekannte, nicht eingehalten wurde. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg fand ein Völkermord auf europäischem Boden statt. Obwohl ein unvergleichliches Friedensprojekt, war die Europäische Union nicht in der Lage, Krieg und Genozid in Europa nach 1945 zu verhindern. Müsste man dies nicht anbringen – allein schon aus Respekt vor den Opfern der Jugoslawienkriege –, wann immer von „70 Jahren Frieden in Europa“ die Rede ist? Wäre diese selbstkritische Betrachtung heute stärker, könnte sie wie ein Reformmotor für die europäischen Institutionen und Entscheidungsprozesse, besonders im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, wirken. Das wäre im Interesse einer handlungsfähigen Europäischen Union.  

Jugoslawienkriege in den Schulunterricht!  

Um diesen Denkansatz im Interesse einer künftig besseren Politik gegenüber dem Westbalkan gesellschaftlich zu verankern, ist es von entscheidender Bedeutung, die Ereignisse der 1990er Jahre in dieser Region einschließlich der Rolle der EU-Mitgliedstaaten mehr EU-Bürgerinnen und Bürgern näherzubringen. In Österreich sind die Voraussetzungen dafür nicht die schlechtesten. Erstens leben hier viele Menschen mit Bezug zur Region und einschlägigen Sprachkenntnissen. Zweitens ist das Österreichische Bundesheer bis heute in Bosnien und Herzegowina wie auch im Kosovo stationiert. Als größte Auslandseinsätze Österreichs stellen sie eine wichtige aktuelle Verbindung zwischen diesem Land und dem Westbalkan her. Drittens ist Österreich – zumindest auf Papier und in Sonntagsreden – ein großer Unterstützer der Westbalkan-Erweiterung der Union. Da jede Regierung für ihre Politik eine gewisse Unterstützung bei den eigenen Wählerinnen und Wählern braucht, wäre es sinnvoll, wenn die Wählerschaft mit den Themen, Problemen, Potentialen der Region vertraut wäre. Viertens gibt es auch in Österreich verschiedene DiasporaOrganisationen, die ganz bestimmte und mitunter einseitige Geschichtsdarstellungen vermitteln. Es könnte dagegen gesteuert werden, hätten junge Menschen die Möglichkeit, in der Schule, wo es Regeln für Debatten gibt, Input für eine eigene Meinungsbildung zu erhalten. Fünftens könnten die Jugoslawienkriege aufgrund ihrer zeitlichen Nähe aber auch ihrer räumlichen Nähe zu Österreich und des Ausmaßes von Zerstörung und Leid, die damit einhergingen, ein wichtiges Beispiel in der Friedenserziehung jener Generationen werden, die selbst keine Erinnerungen an einen Krieg haben. Wo ist also das Problem? Es ist nicht notwendig, den Lehrplan zu ändern. Lehrpläne sind in Österreich mittlerweile kompetenzorientiert, das bedeutet, Schülerinnen und Schülern sollen bestimmte Muster erkennen lernen und zum Beispiel überbordenden Nationalismus und Völkermord in unterschiedlichen Kontexten feststellen können. Der Lehrplan für Geschichte erhält verschiedene Überthemen, die Möglichkeiten bieten, die Jugoslawienkriege als Beispiel dafür herzunehmen. Es ergibt wenig Sinn, dieses konkrete Beispiel verpflichtend zu machen. Schließlich unterrichtet man als LehrerIn sehr unterschiedliche Klassen mit unterschiedlichen Interessen. In Gesprächen mit vielen in unterschiedlichen Schultypen tätigen Lehrkräften in ganz Österreich gaben dennoch nur wenige an, das Thema Jugoslawienkriege im Unterricht zu behandeln. Der Hauptgrund dafür war, dass sie viel zu wenig Zeit – also zu wenige Unterrichtseinheiten im Jahr – hätten, um auch das noch im Curriculum unterzubringen. Viele andere gaben an, sich bei diesem Thema inhaltlich zu unsicher zu fühlen, und dass es wenige brauchbare Unterrichtsmaterialien und deutschsprachige Quellen dazu gebe. Auch in den meist genutzten Schulbüchern steht wenig darüber. Der Großteil bemerkte außerdem, bei einer sinnvoll gestalteten Fortbildung in diesem Bereich teilnehmen zu wollen, wenn so etwas angeboten würde. Die Lehrkräfte wünschen sich einen historischen Gesamtüberblick, genauere Kenntnis über Ursachen und Folgen dieser Kriege und Fortbildung bei der Moderation der Diskussion mit den Schülerinnen und Schülern über solch komplexe und kontroverse Themen. All diese relativ einfach bedienbaren Bedürfnisse sind vermutlich der beste Weg, um das Thema im Schulunterricht zu stärken. Eines noch: Ausnahmslos alle Befragten schätzten das Interesse Ihrer SchülerInnen diesbezüglich hoch oder sehr hoch ein. Das gibt Hoffnung für einen künftig besseren Umgang mit diesem Teil europäischer Geschichte. 


Teresa Reiter ist Europe’s Futures Visiting Fellow am IWM. Sie war drei Jahre lang Fachreferentin für EU, Außenpolitik, Landesverteidigung und Migration im NEOS-Parlamentsklub und beschäftigt sich aktuell mit europäischer Verteidigungspolitik und Politikvermittlung.