Auf der Bühne des Wiener Burgtheaters fanden zwei Podiumsdiskussionen der Reihe „Europa im Diskurs“ statt, die sich zentralen Herausforderungen der Covid-Pandemie gewidmet haben. Der Theatersaal war leer, aber zahlreiche ZuschauerInnen haben die Diskussionen per Livestream verfolgen können.
Impfung – ein knappes Gut
Burgtheater-Debatte am 14. März 2021
Am 14. März 2021 wurde über die weltweite Verteilung von Impfstoffen und die Bedeutung von globaler Solidarität in der Pandemiekrise diskutiert. Shalini Randeria, Rektorin des IWM und Moderatorin der Diskussion, machte auf Paradoxien der Problemlage aufmerksam. Eine solche Paradoxie sei die trotz der beobachtbaren massiven gesundheitlichen Folgen von Covid-19 weit verbreitete Impfskepsis in der Bevölkerung. Barbara Prainsack, Leiterin des Instituts für Politikwissenschaften an der Universität Wien und der Studie Solidarity in Times of a Pandemic (SolPan) sowie Mitglied der Österreichischen Bioethikkommission, bemerkte dazu, dass erst durch qualitative Interviews ersichtlich würde, dass häufig auch jene zu den „Impfskeptikern“ gezählt werden, die Impfstoffe schlichtweg zunächst bedürftigeren Menschen zur Verfügung stellen wollen. Zudem sei zu beobachten: Die Impfbereitschaft steige mit zunehmendem Informationsgrad und mit der Aussicht, sich selbst und andere schützen zu können, so die ebenfalls an SolPan forschende Politologin Katharina T. Paul.
Während die Frage der Impfskepsis im nationalen Kontext ein vieldiskutiertes Thema sei, führen wir „im globalen Vergleich Luxusdiskussionen“, so die Vakzinologin Ursula Wiedermann-Schmidt, Leiterin des Instituts für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin. Sie kritisierte eine „Überinformationspolitik“, die zu einem Vertrauensverlust in Impfstoffe und Zulassungsbehörden beitrage. Es gehe um die Rückkehr zu einer sachlichen Debatte, aber auch darum, die Situation in Europa im globalen Kontext zu bewerten. Dem pflichtete auch der aus Abuja, Nigeria zugeschaltete Marcus Bachmann (Advocacy & Humanitarian Affairs Representative für Ärzte ohne Grenzen Österreich) bei. In Ländern des Globalen Südens fehle vielfach jegliche Perspektive, überhaupt Zugang zu Impfstoffen zu erhalten, wovon besonders das Gesundheitspersonal massiv betroffen sei.
Randeria stellte eine Paradoxie auch im Hinblick auf die Knappheit von Impfstoffen fest: Obwohl in Ländern des Globalen Südens sehr viele ungenützte Produktionskapazitäten vorhanden seien, gebe es aufgrund bestehender Rechte zum Schutz geistigen Eigentums einen Mangel an Impfdosen. Der von Indien und Südafrika bei der Welthandelsorganisation eingebrachte Antrag auf Aussetzung des Patentschutzes für Covid-19-Impfstoffe, Medikamente und Geräte für die Dauer der Pandemie wurde von westlichen Ländern abgelehnt. Marcus Bachmann bestätigte, dass bestehende Produktionskapazitäten in Schwellenländern und Ländern des Globalen Südens ungenutzt bleiben, obwohl sowohl das notwendige Know-how als auch geeignete Entschädigungsmodelle für die PatentinhaberInnen zur Verfügung stehen. Für ein rasches Ende der Pandemie sei es zentral, dass „das derzeit bestehende Impfstoff-Oligopol überwunden wird“. Er rief in Erinnerung, dass erst ein globaler Pool an freien Lizenzen für HIV-AIDS im Jahr 2010 dazu geführt habe, dass Medikamente auf dem afrikanischen Kontinent leistbar wurden.
Da geistige Eigentumsrechte in manchen Kontexten innovationshemmend wirken, sei Patentschutz kontextabhängig zu beurteilen, meinte Barbara Prainsack. Wiedermann-Schmidt wiederum bewertet eine generelle Aufhebung jeglichen Patentschutzes kritisch, da die derzeitige Knappheit nicht auf die Entwicklung der Impfstoffe zurückzuführen sei, sondern darauf, dass nicht schnell genug produziert werden könne.
Eine weitere Paradoxie ist schließlich der Umstand, dass in einer Krise globalen Ausmaßes nationalstaatliche Denk- und Vorgehensweisen dominieren. Katharina T. Paul bemerkte, Gesundheitspolitik sei traditionell eine nationalstaatliche Materie, die Krise biete jedoch eine Chance, etablierte Denkmuster zu durchbrechen. Eine Fokussierung auf den Nationalstaat, so auch Marcus Bachmann, sei schlicht unpraktikabel und führe dazu, dass marginalisierte und vulnerable Gruppen unterversorgt bleiben. Vor diesem Hintergrund hält es Ursula Wiedermann-Schmidt für zentral, dass die WHO COVAX-Initiative, die einen weltweit gleichmäßigen und gerechten Zugang zu Covid-19-Impfungen ermöglichen will, nicht nur ein Lippenbekenntnis bleibt, sondern tatsächlich Umsetzung findet. Die Frage der globalen Solidarität sei aus moralischen und aus Public HealthGründen von größter Relevanz.
Brauchen wir eine Wirtschaftsrevolution nach der Pandemie?
Burgtheater-Debatte am 9. Mai 2021
Eine weitere Diskussion der Reihe „Europa im Diskurs“ fand am 9. Mai statt. Diesmal ging es um die Frage, ob nach der Pandemie eine Wirtschaftsrevolution vonnöten ist. An der vom Standard-Chefredakteur Eric Frey geleiteten Diskussion beteiligten sich die politische Theoretikerin Albena Azmanova (University of Kent und Brussels School of International Studies), die Wirtschaftswissenschaftler Daniel Gros (Centre for European Policy Studies) und Harald Oberhofer (Wirtschaftsuniversität Wien) und, zugeschaltet, die Philosophin Lisa Herzog (Universität Groningen). Zwei unterschiedliche Grundhaltungen machten sich im Panel schon früh erkennbar. Während Azmanova und Herzog von der Notwendigkeit eines radikalen Umdenkens in der Wirtschaft sprachen, waren Gros und Oberhofer eher der Ansicht, dass die Herausforderungen nach der Pandemie mit den vorhandenen wirtschaftlichen Instrumenten angegangen werden können.
Für Azmanova ist die Zeit für zwei Revolutionen (Klimawandel und soziale Gerechtigkeit) gereift. Die Wirtschaftspolitik sollte den Widerspruch ins Visier nehmen, dass die Menschen immer mehr arbeiten müssen, obwohl die Wirtschaft in der Lage wäre, mit wenig Input von der Arbeit ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Priorität sollte der Sicherheit und Stabilität von Existenzgrundlagen eingeräumt werden. Sie plädierte für Job-Sharing aber vor allem für einen Abschied vom Versprechen der Prosperität im Sinne des materiellen Überflusses. „We need to live simple lives,“ bemerkte sie. Sie machte das wesentliche Problem der gängigen Wirtschaftspolitik nicht am Wirtschaftswachstum, sondern am politischen Commitment zum Wirtschaftswachstum fest, das z.B. durch ein Commitment zur ökonomischen Stabilität ersetzt werden soll.
Auch Lisa Herzog plädierte für einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik und stellte die Zweckmäßigkeit gängiger Effizienzund Produktivitätsvorstellungen sowie Indikatoren wie das BIP in Frage. Es sei dringend nötig, meinte sie, die Zukunft der Arbeit zu überdenken und dabei demokratische Strukturen und Partizipationsmöglichkeiten in Erwägung zu ziehen. Demokratische Rechenschaftspflicht müsse auch im ökonomischen Bereich gelten. Wie Azmanova ist auch Herzog der Ansicht, dass wir die Frage des Wohlstands und der Lebensqualität neu stellen müssen. Ferner meinte sie, dass Fragen der Verteilung und sozialen Gerechtigkeit, die auch für die Klimakrise zentral sind, stärker in den Vordergrund gerückt werden sollten.
Daniel Gros hält dagegen die Rede von „Revolution“ für eine Übertreibung. Nach der Pandemie würden die Mechanismen der Wirtschaft wie zuvor funktionieren – die Wirtschaft würde nur grüner und digitaler. Zudem äußerte er sich optimistisch im Hinblick auf die Folgen des technologischen Wandels auf den Arbeitsmarkt, da im Gegensatz zur Vergangenheit heute mehr Menschen über allgemeine Fertigkeiten verfügen, die sich leichter an neue Bedingungen anpassen können. Zudem hätten wir heute einen besseren Wohlfahrtsstaat, der in der Lage sei, die Probleme aufzufangen. Auch im Hinblick auf die Klimakrise zeigte er sich eher optimistisch, dass der Bedarf erkannt wird und die Technologie die Kosten reduzieren wird. Gros äußerte sich dagegen skeptisch über die praktische Umsetzung einer Politik der Abkehr vom Wohlstand. Wichtig sei eher die angemessene Vorbereitung auf Krisen.
Auch Harald Oberhofer hält es nicht für sinnvoll, über eine ökonomische Revolution zu sprechen, und hob hervor, dass Probleme oft politischer und nicht ökonomischer Natur seien. Dass Unternehmen Kosten zu externalisieren pflegen, sei eine politische und keine ökonomische Frage. Die empirische Erfahrung spräche gegen das von Azmanova vorgeschlagene Job-Sharing, meinte Oberhofer. Weder neue Arbeitsplätze seien zu verzeichnen, noch ließe sich eine solche Maßnahme im Kontext eines globalen Wettbewerbs auf nationalstaatlicher Ebene durchführen. Auch sei Wirtschaftswachstum wünschenswert, da eine wachsende Wirtschaft die Bewältigung von Problemen einfacher macht. Oberhofer ist der Überzeugung, dass wenn der Kapitalismus den Menschen die richtigen Anreize gibt, diese kreativ werden und Lösungen finden.
Europa im Diskurs ist eine Kooperation des IWM mit Burgtheater, Erste Foundation und Der Standard.